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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Wie entsteht Deutungshoheit im Pop?



Tiny Tim
29.08.2012, 18:04
Wie entsteht Deutungshoheit im Pop? Diese Frage stellt sich mir aktuell durch den vierseitigen Artikel von Christoph Dallach über Lena im KulturSPIEGEL (Auflage ca. 900.000 - zum Vergleich: Rolling Stone, Musikexpress, Spex und Visions haben jeweils eine Auflage von rund 50.000), der den Blick auf Lena im deutschen Popbetrieb durchaus fundamental verändern könnte.

Die Fragestellung verschärft sich für mich dadurch, dass ich weder über Google noch über den OPAC der Universitätsbibliothek Osnabrück irgendetwas gefunden habe, das mir dabei helfen könnte, einer Antwort darauf näher zu kommen. (siehe #12) Daher wende ich mich an euch mit diesem Fragenkomplex: Wie entsteht Deutungshoheit im Pop? Wie verändert sie sich? Wer hat sie wann warum in welchem Maße inne?

Ich freue mich sehr auf eine angeregte und anregende Diskussion.

mr.spock1968
29.08.2012, 18:28
Was bedeutet denn Definitionsmacht? Wer definiert was Pop ist?

Rolwin
29.08.2012, 18:38
Ich würde fast sagen "Gute Frage, neue Frage" :)
Wenn man in einer Zeitschrift Pop definiert hat man Macht?...man könnte das Definieren auch gleichsetzen mit Kritik.

Wie du siehst, ich habe keine Ahnung :)

earplane
29.08.2012, 18:49
Der von dir gewählte Begriff http://de.wikipedia.org/wiki/Definitionsmacht wird vorwiegend in einem speziellen Gebiet verwendet Vielleicht wäre es dir möglich mit weniger belasteten und besser definierten Begriffen zu beschreiben was du diskutieren möchtest.

Furlong
29.08.2012, 18:51
Definitonsmacht ist in etwa so (also so würde ich das verstehen), ein Beispiel:

Irgendwer (z.B. ein bedeutender Musikkritiker) sagt (bzw. definiert), dass das, was "Die Toten Hosen" (ist jetzt nur ein Beispiel, ich will denen und keinem Fan zu Nahe treten) jetzt machen, Schlager ist und das wird dann so akzeptiert und für zumindest die meisten oder sogar alle machen eben DTH jetzt Schlager.
Oder anders gesagt: Die Macht etwas zu definieren, was dann auch so akzeptiert und von anderen übernommen wird.

mr.spock1968
29.08.2012, 19:03
Ja gut. Danke. Dann sollte man allgemein mal klären was Pop ist.

Fluxxxie
29.08.2012, 19:12
In den heutigen Zeiten, womit ich das "Informationszeitalter" meine, das sich durch einen ungeheuren Informationsüberfluss an wahren/unwahren/sinnvollen/nutzlosen Daten auszeichnet,
glaube ich nicht, dass eine einzige Stelle der Definitionsmacht existieren kann, die gewollt eine Definition/These/Meinung in die Welt bringen kann.
(Ich lasse jetzt mal bewusst Propaganda weg :-))
Vielmehr werden Informationen, die als plausibel erscheinen, so oft weitergeben und wiedergekaut, bis sie sich als "Allgemeinwissen" festsetzen.
Es braucht meiner Meinung nach also Multiplikatoren, bis sich etwas durchsetzt.
Die Auflagenzahl ist da schon ein gutes Kriterium, konkret der Kulturspiegel Artikel hat Chancen sich als Sichtweise einzubrennen.

Interessant wäre zu erforschen, wie denn am Anfang der Eindruck der "bürgerlichen Lena" entstanden ist, der sich ja immer noch in vielen Köpfen befindet und für Entrüstung sorgt, wenn Lena mal aus dieser Schublade springt.

HolgerL
29.08.2012, 19:14
Eine Definition:

http://www.youtube.com/watch?v=DoLeps5U8yM

bates
29.08.2012, 19:25
Irgendwer (z.B. ein bedeutender Musikkritiker) sagt (bzw. definiert), dass das, was "Die Toten Hosen" (ist jetzt nur ein Beispiel, ich will denen und keinem Fan zu Nahe treten) jetzt machen, Schlager ist und das wird dann so akzeptiert und für zumindest die meisten oder sogar alle machen eben DTH jetzt Schlager.

... eine einzelne Person hat aber nicht so viel Macht, um so etwas festzulegen. Es sind m.E. sehr komplexe Prozesse, in denen solche Einordnungen entstehen. Die schreibende Zunft selbst kann da oft nur hinterhecheln. In der Popmusik wechseln Stile und Moden in der Regel sehr schnell; die Impulse kommen aus den verschiedensten Ecken und Winkeln; sobald etwas in Mainstream-Magazine wie Rolling Stone & Co. hineinschwappt, ist es wahrscheinlich in den einschlägigen Subkulturen schon wieder out. Was solche Magazine vor allem tun, ist "kartografieren", sortieren, Überblick im Dickicht verschaffen, kanonisieren - natürlich beanspruchen sie dabei unausgesprochen eine Deutungshoheit. Direkt bekommt so etwas aber nur die Leserschaft solcher Magazine mit - ein verschwindend geringer Teil der Musikhörer. Indirekt und längerfristig kann die Wirkung evtl. schon darüber hinausreichen. - Bei Massenphänomenen, die weit über den Musikbereich hinaus im öffentlichen Bewusstsein präsent sind, wie Lady Gaga oder in Deutschland eben Lena, ist das etwas anders. Das sind Phänomene, an denen sich sowohl das Feuilleton wie der Boulevard - also die beiden Enden des Kulturjournalismus - stark abarbeiten und dadurch natürlich recht wirkmächtige "Deutungen" dieser Phänomene in die Welt setzen. Auch hier sind wir aber noch weit davon entfernt, dass irgendein einzelner die Defintionsmacht hätte.

Das war jetzt alles eher auf die Schnelle herausgefeuert als wirklich stringent durchdacht. Dessen ungeachtet teile ich W.S. Einschätzung, dass die Reichweite und Wirkungsmacht des schönen Spiegel-Artikels nicht zu unterschätzen ist.

Tiny Tim
29.08.2012, 19:33
Deutungshoheit

Das ist der angemessene Begriff; danke bates! Könnte also bitte ein Moderator den Thread umbenennen in: Wie entsteht Deutungshoheit im Pop?

earplane
29.08.2012, 19:53
Meine steile These, so etwas gibt es nicht, ja kann es gar nicht geben. Pop ist etwas sehr subjektives und das Zentrale Element des Pop ist die Individualität. Unter dem Begriff Pop werden mittlerweile viele vollkommen unabhängige Strömungen und Subkulturen zusammengefasst. Sorry, aber da ergibt die Annahme dass da eine Art Deutungs-Hoheit existieren könnte oder gar dass irgendjemand so etwas inne haben könnte für mich überhaupt keinen Sinn.

Tiny Tim
29.08.2012, 19:55
Ha! und schon habe ich - dank bates - doch noch nützliche Materialien gefunden, die dabei helfen können, einer Antwort auf die gestellte Frage näher zu kommen:

1) http://www.v-r.de/pdf/titel_einleitung/1008984/einleitung_978-3-89971-976-5.pdf (aus: http://www.v-r.de/de/title-0-0/sophistication-1008984/)

2) http://www.taz.de/!65997/

3) http://forum.rollingstone.de/showthread.php?t=8893

Surfer
29.08.2012, 20:24
Deutungshoheit entsteht durch Reputation. Diese muß man sich erarbeiten, oder über Jahrzehnte erlangen, wie es bei renommierten Zeitungen der Fall ist. Es ist dann nicht das Selbe, wenn ein Rolling-Stone-Magazin (WTF is that) etwas sagt, oder z. B. das Zeit-Magazin. Letztere wird mehr Vertrauen bei den Menschen geniessen, weil dort in anderen Fällen, auch seriös durch einigermaßen seriöse Journalisten berichtet wurde, so daß man dieser neuen Information auch Vertrauen schenkt. Soviel zur Theorie.

Die Praxis sieht doch so aus, daß Medienkonzerne sich schon längst die Medienlandschaft in Deutschland und Europa, ja der Welt, aufgeteilt haben. Die Frage ist nun, wer sitzt dort und was haben die vor. Brechen sie den Stab über eine Person, z. B. Herrn Wulf, dann sieht es schlecht aus. Glauben "Sie", sie könnten noch mehr Geld/Umsatz machen, wenn sie sich dem Volk anbiedern und mit der Person im Fahrstuhl nach oben fahren, dann tun sie es. Wer sind also diese Meinungsmacher, Redakteure/Entscheider die, wie bei 007, ganze Medienbereiche manipulieren, oder ist es der einzelne Journalist, der eine gewisse Freiheit genießt und seine persönliche Ansicht verbreitet, solange sie in der Doktrin der Zeitung/Senders paßt. Wer sagt wo es lang geht, mit der Meinung?

Meiner Meinung nach ist es von Allem etwas. Eine Presseagentur gibt eine Info in die Welt, ob richtig oder falsch, und die Journalie übernimmt sie unreflektiert, oder im günstigen Fall hinterfragt die Info. Es gibt Vorgaben von ganz Oben, wie im Fall Wulf, evt. durch die Eigentümer, oder der ein oder andere Journalist benutzt seine "Macht" und sonnt sich darin.

Das Problem ist, daß es keine wirkliche Vielfalt mehr gibt, keine wirkliche Unabhängigkeit und kein wirkliches Hinterfragen, weil man mit Infos zugeschüttet wird und die Zeit fehlt. Man konsumiert die Information und speichert sie in einem unbedeutetem Teil des Hirns um es bei passendem Anlaß mit anderen Vorurteilen zu vermengen. So entsteht Meinung, ohne zu Denken. :D

PS:Ich plaudere etwas, weil meine Nachbarin mich mit einer Flasche Rotwein abgefüllt hat. :)

Lenafant
29.08.2012, 20:40
Kann überhaupt nachgewiesen werden, daß z. B. bestimmte Presseorgane oder andere Medien mit ihren Rezensionen maßgeblich zum Erfolg oder Mißerfolg eines Werkes beigetragen haben? Oder dass sich bestimmte Ausdrücke für bestimmte Musikstile nach deren Benennung in bestimmten Medien im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt haben? Ich würde zumindest den Musikmagazinen diese Deutungshoheit zuerkennen, musikalische Werke mehr oder weniger grob in bestimmte Sparten einzuordnen. Danach würde ich entscheiden, ob diese Musik grundsätzlich mein Geschmack ist oder nicht und mich dann weiter auf die Rezension einlassen oder eben nicht.

Wobei auch die Musiker selbst zu manchen Kategorisierungen beitragen können. Ende der 70er, Anfang der Achtziger wurden Bands wie Joy Division oder Siouxsie & the Banshees in Interviews gebeten, ihre Musik zu umschreiben und sie benutzten, wenn auch nicht ganz ernstgemeint, dabei den Ausdruck "Gothic". Irgendwie hat sich dann in den Medien diese Bezeichnung durchgesetzt als neue Stilrichtung und genannte Bands wurden diese Schublade nur schwer wieder los.

Aber gab es auch schon Fälle, in denen sich ein Erfolg allein aufgrund des Publikumsinteresses und völlig an den Rezensionen vorbei eingestellt hat? Mir fällt grad kein Beispiel ein. Wobei dann auch oft die Medien nicht umhin können, zu versuchen, diesen nicht erwarteten Publikumserfolg irgendwie zu deuten. Und wer ist denn zuerst da, der begeisterte Hörer oder der begeisterte Rezensent? Hätten manche Zuschauer Lena nach ihrem ersten USfO-Auftritt auch ohne die begeisterten Reaktionen aus der Jury weitergewählt? Manchen Klatschmagazinen/Journalisten, die Lena als Schlagersängerin bezeichnen, scheinen wir ja jedenfalls, zu Recht, die Deutungshoheit über Lenas Musik abzusprechen.

luluyeah
29.08.2012, 21:21
wo ist denn der artikel vom kulturspiegel? :)

Stranger
29.08.2012, 21:31
wo ist denn der artikel vom kulturspiegel? :)

Hier: http://www.lenameyerlandrut-fanclub.de/forum/showthread.php?6766-27-08-2012-KulturSPIEGEL-9-2012-quot-Nordisch-nobel-quot

luluyeah
29.08.2012, 21:35
Danke :)

Tiny Tim
29.08.2012, 22:46
Hier hätten wir übrigens mal ein geradezu idealtypisches Beispiel für die totale Konfusion, die sehr häufig im Gespräch über Pop vorherrscht:


Völlig wertfrei:

Pop wird zum Wegschmeissen gemacht, Rock für die Ewigkeit.

Es klappt aber nicht immer so ganz, beides.

Oder: Der klassische Pophörer hört in "phasen"

Der Rockhörer hört Rock.

Der Rockhörer verachtet Pop.

Der Pophörer hat keine Ahnung, daß es Rock gibt.

Soweit die Klischees, die aber auch - je nach Betrachtungsweise stimmen.

Aber da es Menschen gibt, die behaupten Metallicas schwarzes Album sei Pop, und das gut begründen können, stimmt es natürlich alles nicht.

"Rock is a lifestyle. not an attitude", hat so ähnlich glaube ich mal Ian Gillan gesagt. So sehe ich es auch. Und Pop dann eben als Attitude.
Ich höre manchmal gerne ein Stückchen Pop, aber im Grunde verachte ich Popmusik. Respektive das, was ich dafür halte.

Dazu zählt Metallicas schwarzes Album aber nicht. Das ist schlecht gespielter, schlecht produzierter Rock.

Bon Jovi ist KEIN Pop. Warum? Ich weiss es, aber erklärt es mir.

Quelle: http://forum.rollingstone.de/showthread.php?t=8893&page=3

Der Autor führt als Benutzertitel übrigens "Georg-Ringsgwandl-Apologet"...

pLENArium
29.08.2012, 22:50
...uff - hard stuff :zahn:

Mir gingen in den letzten 10-15 Jahren jedenfalls die Ankündigungen der renommierten Musikmagazine explizit der sogenannten "NEXT BIG THINGS" mächtig auf den Sack. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, daß so mancher dadurch "gehypter" Künstler/Band Teil einer Marketingkampagne der Musikindustrie waren, welche sich bei den Instrumenten der vermeintlich unabhängigen Fachleuten bediente. Das Hauptargument schien zu sein, daß diese Protagonisten sich jenseits des verhaßten "Mainstreams" bewegten, aber durch ihre Belanglosig- und Austauschbarkeit keine weiteren Profilierungsmerkmale aufweisen konnten. Letztendlich entscheidet aber der Konsument über die Akzeptanz des Produkts, und auch über die Entstehung des "big things" - der Hinweis darauf kann aber nur eine Entscheidungshilfe sein...an die meisten Proklamationen kann ich mich jedoch nicht mehr wirklich erinnern, bzw. habe nie wieder etwas davon gehört :)

omi
29.08.2012, 22:58
hmm... ich glaube in der heutigen zeitwürde ichalles als pop bzw. popkultur bezeichnen was bei der masse ankommt. man kann da nicht mehr klare grenzen ziehen.
wenn jetzt plötzlich ein nischenmusiker aufeinmal erfolg hat sei es durch eine ausgeklügeltes marketing oder jahrelanges aufbauen der karriere durchs label gehört er dann auf jeden fall zum pop. er ist dann kein nischenmusiker mehr. pop = populär

aber interesanter zu dem thema finde ichwie sich die genre grenzen immer mehr verwischen und alles nur nochein aufguss aus schon mal dagewesenem und altbewährtem ist. inovation ist fehlanzeige im pop

j_easy
29.08.2012, 23:03
Schätze, Pop gab es schon zu anderen Zeiten, als Musik die nicht von der jeweils herrschenden Hochkultur definiert wurde.

Was die Deutungshoheit angeht, sprechen wir von Deutschland, von Europa, oder der ganzen Welt? Hierzu gehören auch die Arabischen oder Asiatischen Regionen, die noch nicht vollständig amerikanisiert sind.

Denke aber mal, dass sich die englischsprachigen Regionen einbilden Pop zu definieren.

Wo fängt Pop an und wo hört er auf? Adoro hat Pop "verklassikt" ... Sind die Stone Rockmusik oder teilweise Pop?

... Mehr Fragen als Antworten ...

j_easy
29.08.2012, 23:14
hmm... ich glaube in der heutigen zeitwürde ichalles als pop bzw. popkultur bezeichnen was bei der masse ankommt. man kann da nicht mehr klare grenzen ziehen.
wenn jetzt plötzlich ein nischenmusiker aufeinmal erfolg hat sei es durch eine ausgeklügeltes marketing oder jahrelanges aufbauen der karriere durchs label gehört er dann auf jeden fall zum pop. er ist dann kein nischenmusiker mehr. pop = populär

aber interesanter zu dem thema finde ichwie sich die genre grenzen immer mehr verwischen und alles nur nochein aufguss aus schon mal dagewesenem und altbewährtem ist. inovation ist fehlanzeige im pop

Würde ich nicht so eng sehen? Es gibt viele Innovationen, die man gar nicht so mitkriegt. Ansonsten haben sich Musiker bereits zu allen Zeiten gegenseitig inspiriert. Gut, dass es bei RadioEins die verschiedenen Abend Sendungen gibt. Da wird Musik und die dzugehörigen Musiker der verschiedensten Sparten vorgestellt, auch ziemlich schräges Zeug oder Musik die im Dudelfunk, dazu zähle ich auch viele der Sender die Lenchen spielen, nicht gesendet wird.

Tiny Tim
29.08.2012, 23:16
Um noch mal zur Ausgangsfrage zurückzukehren: An folgender Stelle wird sehr schön deutlich, warum durch das Internet die aus den Achtziger Jahren überkommene (angemaßte) Deutungshoheit der "Checkermagazine" sich immer mehr auflöst: weil es die Knappheit von Informationen und Zugriffsmöglichkeiten abgeschafft hat.


Anfang der achtziger Jahre war die Spex eine Zeitschrift von ausgemachten Arschlöchern für ausgemachte Arschlöcher. Jeder, der Studierende und ihren Habitus hasste, sah das so; jeder, der angewidert war von seinen kumpelhaften SPD-wählenden Lehrern und von den Ortsvorsitzenden der Jungen Union; jeder, der nicht in Köln, Hamburg, Düsseldorf, West-Berlin oder Frankfurt wohnte und nicht die hippe Szenebuchhandlung, die angesagte Galerie oder den legendären Plattenladen um die Ecke hatte. Die Spex aber redete immer von dem mordsseltenen Zeug, das man sich besorgen musste via Zickzack-Mailorder, das man auf Kurzurlauben in den Städten kaufen musste, redete von aufregenden Konzerten, die in Siegen, Konstanz, Bielefeld und Krefeld nie stattfanden, redete aufgeregt von Dingen, die es ausschließlich in New York, Tokio oder wenigstens Antwerpen gab.

Bücher des März-Verlages wurden empfohlen, die man nur in sehr guten Antiquariaten fand, Kataloge, die sich niemand leisten konnte, wurden zur Pflichtlektüre erklärt. Arschlöcher halt, Söhne und Töchter just jener verhassten SPD-Lehrer, Leute, die das dicke Taschengeld hatten und irgendwie den Riecher für das, was dann bald schwer angesagt, man sagte damals: »wichtig« wurde.

Das war das coole Wissen. [...]

Quelle: http://jungle-world.com/artikel/2005/34/15900.html

j_easy
29.08.2012, 23:22
Schöner Auszug! Ja, das Internet hat in der Tat einiges verändert. Aber es wird ja fleißig daran gearbeitet, dass man doch nicht auf alle verfügbaren Inhalte Zugriff hat :suspekt:

omi
29.08.2012, 23:29
Schöner Auszug! Ja, das Internet hat in der Tat einiges verändert. Aber es wird ja fleißig daran gearbeitet, dass man doch nicht auf alle verfügbaren Inhalte Zugriff hat :suspekt:

das wird die nächsten jahre noch schlimmer werden wenn die content-industrie erstmal richtig einzug ins internet hält
bezahlinhalte sind dann vorprogramiert

Tiny Tim
29.08.2012, 23:56
http://www.v-r.de/pdf/titel_einleitung/1008984/einleitung_978-3-89971-976-5.pdf

Das Buch, aus dem dieser Auszug stammt, ist übrigens dieses: http://www.v-r.de/de/title-0-0/sophistication-1008984/

j_easy
30.08.2012, 00:11
Das Buch, aus dem dieser Auszug stammt, ist übrigens dieses: http://www.v-r.de/de/title-0-0/sophistication-1008984/

Ganz schön preiswert :suspekt:

Brummell
30.08.2012, 00:16
Ganz schön preiswert :suspekt:

Für diese Art von Büchern ist das preiswert. Die haben ja nur eine 1000er und keine 100000er Auflage. :D

Tiny Tim
30.08.2012, 00:17
Ganz schön preiswert :suspekt:

Für ein wissenschaftliches Buch ist das tatsächlich preiswert. Sollte Dir jemals ein psychologisches Fachbuch unterkommen, empfehle ich Dir, ein Fläschchen Riechsalz dabeizuhaben. ;)

Im übrigen sollte in absehbarer Zeit dieses Buch in den meisten Universitätsbibliotheken zur Ausleihe bereitstehen. Und ansonsten gibt es ja noch die Fernleihe.

j_easy
30.08.2012, 00:17
Für diese Art von Büchern ist das preiswert. Die haben ja nur eine 1000er und keine 100000er Auflage. :D

:zahn:

Tiny Tim
30.08.2012, 00:32
Im übrigen sollte in absehbarer Zeit dieses Buch in den meisten Universitätsbibliotheken zur Ausleihe bereitstehen. Und ansonsten gibt es ja noch die Fernleihe.

Mindestens zwei Bibliotheken haben das Buch übrigens schon, allerdings noch nicht zur Ausleihe bereit: http://gso.gbv.de/DB=2.1/SET=1/TTL=1/CMD?TRM=978-3-89971-976-5&IKT=1016&DB=2.1&SERVER=gso.gbv.de&SRT=YOP&ACT=SRCHA&LNG=DU&COOKIE=U999,K999,D2.1,E2bd0f6ee-bff,I0,B9994++++++,SY,A\9008+J,,1,,U,,4, ,7,,M,H13-15,,17-23,,30,,50,,60-61,,73-78,,88-90,NGAST,R85.8.66.177,FN

omi
30.08.2012, 00:43
Letztendlich entscheidet aber der Konsument über die Akzeptanz des Produkts, und auch über die Entstehung des "big things"

naja... auf dem komerzielen musikmarkt istes nicht ungewöhnlich das durch "selbstkäufe" oder so die charts manipuliert werden und künstlich ein hype erschaffen wird.
nur mal so am rande. es fliest auch geld das positive artikel geschrieben werden undein song oft im radio gespielt. das was die masse vorgesetzt bekommt und die wahrheit sind immer 2 verschiedene paar schuhe. wie ich schonmal im gema thread dreht sich alles ums geld...

Brummell
30.08.2012, 00:48
naja... auf dem komerzielen musikmarkt istes nicht ungewöhnlich das durch "selbstkäufe" oder so die charts manipuliert werden und künstlich ein hype erschaffen wird.
nur mal so am rande. es fliest auch geld das positive artikel geschrieben werden undein song oft im radio gespielt. das was die masse vorgesetzt bekommt und die wahrheit sind immer 2 verschiedene paar schuhe. wie ich schonmal im gema thread dreht sich alles ums geld...

Da gibt es ein paar alte Stories in dieser Richtung. Die Statistiker der offiziellen Charts haben das aber wohl mittlerweile sehr gut im Griff.

JHM
30.08.2012, 01:21
Dann kann ich als "halber" Göttinger einmal in das Buch schauen, danke für den Tipp!

Ich hoffe, dass sich, durch die musikalische Öffnung via youtube u.ä., noch mehr ändert als bis jetzt schon. Traditionelle Medien haben bei weitem nicht mehr den Einfluss, den sie sich gerne noch selber zugestehen. Sie versuchen zwar immer noch, KünstlerInnen zu kategorisieren, was aber oftmals schon an den schon angesprochenen Crossover - Ansätzen scheitert. KünstlerInnen wie Cro oder Lana Del Ray, um nur einmal zwei zu nennen, bedienen sich vieler musikalischer Einflüsse, werden durch offene Plattformen bekannt und können ihre Musik (erstmal) ohne Mediendruck und große Plattenfirmen veröffentlichen. Gerade bei letzerem erleben Indie - Labes zur Zeit einen kaum geglaubten Aufschwung.

Wirklich interessant wird es, wenn die KünstlerInnen einen für große Plattenfirmen ökonomisch einträglichen Bereich erreicht haben. Entweder entscheiden sie sich, wie ich auch der Meinung bin, für kleine(Sub-) Labels, oder werden bei Sony / Universal direkt unter Vertrag genommen. Und hier kommt auch eine klare "Deutungshoheit" ins Spiel. KünstlerInnen werden nun eben als Emporkömmlinge des Internets 2.0 verkauft, haben natürlich vielseitige Einflüsse und bedienen sich neben Rap auch dem Gesang (leicht zugespitzt).

Nun muss der "Konsument" entscheiden, ob er das "neue Produkt" der Plattenfirma immer noch so dufte findet: Geht mein Liebling noch seinen eigenen Weg oder ist er zunehmend fremdbestimmt? Geht er in eine pseudo - individuelle Richtung oder sind es wie so oft Marketingstrategien? Ich persönlich versuche das genau für mich zu reflektieren und kann auch weiter hinter Lena oder den Hosen ohne Bedenken stehen. Trotzdem beobachte ich die weitere Entwicklung immer kritisch.

Tiny Tim
30.08.2012, 01:35
An dieser Stelle erlaube ich mir, noch einmal an meine Rezension über Jana Elzners Bachelorarbeit zu erinnern: http://www.lenaisten.de/2011/10/03/zauberhaftes-charisma-uber-den-versuch-nach-den-sternen-zu-greifen/

esiststeffen
30.08.2012, 02:09
An dieser Stelle erlaube ich mir, noch einmal an meine Rezension über Jana Elzners Bachelorarbeit zu erinnern: http://www.lenaisten.de/2011/10/03/zauberhaftes-charisma-uber-den-versuch-nach-den-sternen-zu-greifen/

Interessant finde ich an diesem Text, dass er noch vor USFB geschrieben wurde. Lena und Roman starteten medial gesehen unter nahezu identischen Vorzeichen (Roman vielleicht sogar noch mit gewissen Vorteilen, weil er sich in einer Show präsentieren konnte, die sich bereits zuvor als überaus erfolgreich erwiesen hatte und daher vermutlich auch mehr Leute auf sie neugierig waren - zumindest bin ich ein Beispiel dafür, da ich USFO nie gesehen, USFB aber von der ersten bis zur letzten Ausgabe tapfer verfolgt habe). Beide Künstler und beide Shows hatten die ARD, ProSieben, Stefan Raab, Brainpool und last but not least den ESC als große Bühne im Rücken. Dennoch hat Lena praktisch von ihrer USFO-Teilnahme an einen nationalen und später auch internationalen Medienhype ausgelöst, der bei Roman ausgeblieben ist. Roman hatte keine Single und kein Album auf Platz 1 der Charts, und obwohl er sich in Baku meiner Meinung nach achtbar geschlagen hat, hatte er keine Chancen auf den Sieg. Heute, drei Monate nach dem ESC (es erscheint mir viel länger) ist er schon wieder halb in der Versenkung verschwunden. Die Einschaltquoten von USFB waren unter aller Kanone und blieben teilweise sogar hinter Sendern wie RTL2 oder Kabel1 zurück; und (ich hatte es schon damals irgendwo im Forum geschrieben) zeitweilig erweckten Jury und Moderatoren bei USFB zumindest auf mich den Eindruck eines 'Das hätten wir uns anders vorgestellt'. Vielleicht war man tatsächlich der Meinung, dass es ein Selbstläufer sei, mit der Show USFB und unserem Star für Baku (ganz egal wer es sein würde) wieder einen vergleichbaren Hype zu landen wie 2010 mit USFO und Lena. Die Zuschauer, Televotingteilnehmer und CD-Käufer würden schon von alleine kommen; die Hauptsache wäre es, den Gewinner in den richtigen TV-Shows zu platzieren. Und ich gestehe auch freimütig: Bis USFB 2012 habe ich Lenas Erfolg auch zu einem guten Teil auf diese äußeren Umstände zurückgeführt. USFO hätte für mich genausogut Jennifer gewinnen können (das Finale war bekanntermaßen die einzige USFO-Ausgabe, die ich gesehen habe), und sie hätte auch genausogut eine sehr gute Platzierung in Oslo einfahren können (Lenas Sieg in Oslo war für mich noch nie eine zwingende Selbstverständlichkeit). Erst als ich in diesem Jahr den direkten Vergleich in Form von USFB und Roman gesehen habe, und wie diesmal alles so emotionslos dahinplätscherte, wurde mir klar, dass an Lena vielleicht doch etwas ganz Besonderes dran sein könnte, was anderen von den Medien präsentierten Superstars tatsächlich abgeht :)

Was ich damit sagen wollte: Am direkten Vergleich zwischen Lena/USFO und Roman/USFB kann man den Unterschied zwischen einem von den Medien auf den Sockel gehobenen Star, der die in ihn gesetzten Erwartungen und Hoffnungen tatsächlich erfüllt (und sogar übererfüllt), und einem, dem dies trotz unbestreitbar vorhandener sangestechnischer Fähigkeiten nur sehr eingeschränkt gelingt, meiner Meinung nach sehr gut erkennen ..... an diesem Vergleich könnte man weiter ansetzen, gerne auch aus wissenschaftlicher Sicht ;)


PS: Wo gibts weitere Infos zu dieser Bachelorarbeit? Welches Fach ist das, Soziologie? (Ich muss übrigens zugeben, Walter: Ich hab in diesem Jahr meine Magisterarbeit in Germanistik geschrieben, gestehe mir also auch eine gewisse Erfahrung für wissenschaftliche Ausdrucksweisen zu; aber bei manch einer Formulierung in deiner Rezension musste ich schon mehr als einmal nachlesen, um zu verstehen, was du meinst)

Tiny Tim
30.08.2012, 03:34
PS: Wo gibts weitere Infos zu dieser Bachelorarbeit? Welches Fach ist das, Soziologie?

Bachelorarbeit zur Erlangung des Grades Bachelor of Arts (B.A.) im Fachbereich 1 Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Siegen, vorgelegt von Jana Elzner, 22. September 2010

Rolwin
30.08.2012, 13:20
Ich habe bisher aufmerksam die Beiträge verfolgt.
Die Frage lautet ja, wie entsteht so etwas?
Mein bisheriges Resümee:

Die Person, oder die Zeitschrift, die dieses Attribut "Deutungshoheit im Pop" für sich in Anspruch nimmt, muß eine Glaubwürdigkeit erlangt haben. Das heißt, dass sie in der Vergangenheit überwiegend treffsichere Einschätzungen vorweisen kann.
Ich als Leser, oder lesender Journalist, vertraue darauf, dass der geschriebene Artikel gut recherchiert und den Tatsachen entspricht. Weitere Recherche kann man sich sparen, sei es aus Zeitmangel, oder weil man schlichtweg keine Lust hat.
Nun verbreitet sich die Meinung, entweder von Mund zu Mund, oder durch unrecherchiertes Zitieren durch Journalisten.
Werden die richtigen Einschätzung im laufe der Zeit immer weniger, verliert man die Deutungshoheit.

Frage, liege ich hier völlig falsch?

earplane
30.08.2012, 14:52
der Artikel hier befasst sich auch mit dem Thema Deutungshoheit
http://www.welt.de/kultur/musik/article108834611/Die-Musikcharts-sind-tot-Wirklich-tot.html
oder besser gesagt stellt er die These in den Raum dass nicht einmal mehr die Charts eine solche besitzen.

PS: Zwischen den Zeilen merkt man natürlich recht schnell dass es wohl vor allem das Feuilleton ist das keinerlei Deutungshoheit im Bereich der Pop Kultur besitzt. Und mir drängt sich der Verdacht auf dass das wohl vor allem an mangelndem Interesse und nicht vorhandener Kompetenz der Autoren liegen mag.

mr.spock1968
30.08.2012, 15:27
der Artikel hier befasst sich auch mit dem Thema Deutungshoheit
http://www.welt.de/kultur/musik/article108834611/Die-Musikcharts-sind-tot-Wirklich-tot.html
oder besser gesagt stellt er die These in den Raum dass nicht einmal mehr die Charts eine solche besitzen.

Haben sie auch nicht. Die Amigos z. B. sind bestimmt kein Pop. Darum sind die Charts in Deutschland auch keine Popcharts.

mr.spock1968
30.08.2012, 15:35
der Artikel hier befasst sich auch mit dem Thema Deutungshoheit
http://www.welt.de/kultur/musik/article108834611/Die-Musikcharts-sind-tot-Wirklich-tot.html
oder besser gesagt stellt er die These in den Raum dass nicht einmal mehr die Charts eine solche besitzen.

Die Kommentare drunter sind sehr gut aber meistens am Thema vorbei. Haben die überhaupt den Beitrag kapiert. Ich auch nicht?

:D

rix
30.08.2012, 15:44
der Artikel hier befasst sich auch mit dem Thema Deutungshoheit
http://www.welt.de/kultur/musik/article108834611/Die-Musikcharts-sind-tot-Wirklich-tot.html
oder besser gesagt stellt er die These in den Raum dass nicht einmal mehr die Charts eine solche besitzen.

Absoluter Blödsinn, den der Autor da verzapft. Beispiel:


Heute sagt eine gute Platzierung nicht mehr besonders viel aus – die Zahl, um auf die Nummer eins zu gelangen, ist bekanntermaßen viel kleiner als noch in den Neunzigerjahren. Von den Siebzigern und Sechzigern brauchen wir gar nicht erst anfangen.

Die Aussage trifft für absolute Zahlen zu, die für Gold und Platin Alben benötigt werden, aber nicht für relative Zahlen, die sich in Charts ausdrücken.

Das unbekannte Namen an Platz Eins stehen, hat einfach damit was zu tun, dass der Musikmarkt (wie viele andere Märkte auch) viel Schnelllebiger geworden ist. Viel mehr neue Künstler in immer kürzerer Zeit. Deshalb gibt es nur noch wenig ganz große Namen, die Lieschen Müller und damit der Welt-Leser (und für die ist der Artikel geschrieben) kennt. Der Artikel ist also eher eine Absolution an die Lieschen Müllers, dass die sich keine Sorgen machen brauchen, wenn sie die Number One Interpreten nicht mehr kennen.

EDIT: Und wer Philipp Poisel selbst nach What a Man (der Film) nicht kennt, heißt wirklich Lieschen Müller. Sorry, falls ich damit einem echten Lieschen hier im Forum auf die Füße trete.

Tiny Tim
30.08.2012, 17:25
Ja gut. Danke. Dann sollte man allgemein mal klären was Pop ist.

Ich finde diesen Beitrag aus dem Rolling-Stone-Forum sehr gut:


Pop ist Volksmusik unter den Bedingungen einer pluralistischen, kapitalistischen Massengesellschaft.

Volksmusik heißt: Musik von und für musikalische Laien. Laien sind Menschen ohne formelle musikalische (Konservatoriums-)Ausbildung.
Der Unterschied zur Volksmusik früherer Jahrhunderte besteht in massiv verbesserten Distributionsmöglichkeiten und der Möglichkeit, damit nicht nur seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern sogar richtig viel Geld zu verdienen. Die "star making machinery".

Dies hat natürlich Rückwirkungen auf die Musik selbst. Popularität gibt es fast nie ohne Populismus. Zur Popmusik gehört also in der Regel der Wunsch zu gefallen und das Publikum nicht zu überfordern. Sie zielt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Dies kann ein Segen sein, aber auch ein Fluch. Geniale Einfachheit und bloße Platitüde wohnen dicht beieinander.
Zum Pluralismus gehört nun allerdings auch, dass jeder mitreden darf und Platz ist für vielfältige unterschiedliche Konzepte. Eines dieser Konzepte kann auch ein ostentativer Anti-Populismus sein, z.B. zwecks Schaffung einer besonderen Gruppenidentität.

Es ist also richtig, Pop nicht als Stilbegriff auf einer Ebene mit Rock, Jazz, Country oder Rap zu sehen, sondern als übergeordnetes Prinzip.
Verbreitet ist die Ansicht, dass es sich bei Pop (Beach Boys, Abba, Madonna, Michael Jackson, Britney Spears) und Rock (Stones, AC/DC, Bruce Springsteen, Nirvana, White Stripes) um zwei geradezu verfeindete Lager handelt. Aufgekärte Forumianer bestreiten zu Recht diese Frontstellung. Trotzdem scheint irgendwie jeder zu wissen, dass Elton John "mehr Pop" ist als etwa Motörhead. Pop ist eben ein sehr schlecht konturierter Begriff.

Quelle: http://forum.rollingstone.de/showthread.php?t=8893&page=21

esiststeffen
30.08.2012, 18:39
Volksmusik heißt: Musik von und für musikalische Laien. Laien sind Menschen ohne formelle musikalische (Konservatoriums-)Ausbildung.
Der Unterschied zur Volksmusik früherer Jahrhunderte besteht in massiv verbesserten Distributionsmöglichkeiten und der Möglichkeit, damit nicht nur seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern sogar richtig viel Geld zu verdienen. Die "star making machinery".

Dies hat natürlich Rückwirkungen auf die Musik selbst. Popularität gibt es fast nie ohne Populismus. Zur Popmusik gehört also in der Regel der Wunsch zu gefallen und das Publikum nicht zu überfordern. Sie zielt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Dies kann ein Segen sein, aber auch ein Fluch. Geniale Einfachheit und bloße Platitüde wohnen dicht beieinander.
Zum Pluralismus gehört nun allerdings auch, dass jeder mitreden darf und Platz ist für vielfältige unterschiedliche Konzepte. Eines dieser Konzepte kann auch ein ostentativer Anti-Populismus sein, z.B. zwecks Schaffung einer besonderen Gruppenidentität.
Da frage ich mich: Ist diese Deutung "Pop = ausgerichtet an den Bedürfnissen musikalischer Laien" und "Pop = ausgerichtet am Massengeschmack" als etwas Negatives zu werten? Bzw. würdest du, Walter, dies als etwas Negatives sehen?
Ich bin vermutlich genau so ein musikalischer "Laie" wie beschrieben. Ich habe nie gelernt ein Instrument zu spielen (hatte auch nie das konkrete Bedürfnis danach) und habe mich im Musikunterricht in der Schule nie besonders gut aufgehoben gefühlt. Ich betone (nicht zuletzt aus diesem Grund) daher auch immer wieder, dass ich jemand bin, der von Musik keine Ahnung hat. Ich kann Musik im Prinzip nur nach "gefällt mir" oder "gefällt mir nicht" einteilen. Aber sollte es nicht auch genau so sein? Musik ist doch ein Metier, wo es nicht in vorderster Front darauf ankommt, besonders "gelungene" und "anspruchsvolle" Kunstwerke zu kreieren, oder irre ich mich? Musik funktioniert doch nicht über Kriterien wie "besonders gute technische Umsetzung" oder "besonders experimentell", sondern sie funktioniert über Emotionen, über Leidenschaftlichkeit. Ich hatte schon mal irgendwo im Forum (ich glaube, es war in "Ist das Forum eine Gemeinschaft") geschrieben, dass ich Begeisterungsfähigkeit (und damit auch Emotionalität) für sehr sehr wichtig im Umgang des Menschen mit der Welt halte. Der eine oder andere hier im Forum weiß, dass ich seit nunmehr sieben Jahren einer Band verschrieben war und bin, nämlich der Band Juli, die für mein Leben wohl ungefähr das ist wie für viele von euch hier im Forum Lena. Nun bin ich aber genau aus dem einen Grund Julifan geworden, weil ich mich ganz persönlich und unmittelbar von ihr angesprochen gefühlt habe. Ich würde nie behaupten (und wüsste als musikalischer Laie auch gar nicht, wie ich das beurteilen sollte), dass Eva Briegel objektiv gesprochen eine gute Sängerin ist oder Marcel Römer ein guter Schlagzeuger; und ihre Songtexte würden vor den Augen eines Reich-Ranicki oder eines Günter Grass sicher nicht lange bestehen - aber wieso sollten sie das auch? Irgendwer in der Presse erfand für die Kunst der Julis mal den Begriff "Schulmädchenlyrik", was mich ärgert, weil er abkanzelt, was offenbar vielen Menschen gef#llt und von ihnen ernstgenommen wird, und weil er zudem Ansprüche an diese Band stellt, die zu erfüllen sie von vornherein nicht angetreten ist und was mMn auch nicht ihre Aufgabe sein sollte. Wie gesagt, Fan dieser Band bin ich nicht, weil sie etwas präsentieren, was die Krönung der menschlichen Kunst überhaupt darstellt - sondern weil sie mich, ja, mich ganz persönlich, damit begeistern, weil ich mich in ihrer Musik wiederfinden kann und sie in mir Dinge wecken, nach denen ich ein Leben lang gesucht habe (das ist jetzt fast ein Zitat aus 'Perfekte Welle' ;)). Und dass sie das nicht nur bei mir getan haben, sondern auch bei vielen weiteren Menschen, spricht meiner Meinung nach für und nicht gegen sie :)

mr.spock1968
30.08.2012, 18:41
....

Dankeschönst.

:)

Tiny Tim
30.08.2012, 19:46
Da frage ich mich: Ist diese Deutung "Pop = ausgerichtet an den Bedürfnissen musikalischer Laien" und "Pop = ausgerichtet am Massengeschmack" als etwas Negatives zu werten? Bzw. würdest du, Walter, dies als etwas Negatives sehen?

Überhaupt nicht! Jana Elzner schreibt in ihrer Bachelorarbeit unter Berufung auf Gerhard Schweppenhäuser über die Anfänge populärer Unterhaltungskultur: "Menschen mit geringer Bildung machten erste ästhetische Erfahrungen und lernten eine komplette künstlerische Darbietung zu verfolgen." Von daher tritt Pop also ein stolzes Erbe an: nämlich eine wahrhaftig "demokratische" Unterhaltungstradition, in der Menschen ohne Voraussetzungen, die in der Regel privilegierten Gesellschaftsschichten vorbehalten sind, ihresgleichen ästhetische Erfahrungen vermitteln und Freude bereiten können.

Deinen übrigen Ausführungen stimme ich uneingeschränkt zu, insbesondere Deinem Begriff der Leidenschaftlichkeit, der mir seit 1989 immer vor Augen gestanden ist, als ich Who-Fan wurde. The Who sind ohnehin ein perfektes Beispiel für das, was Du schreibst, denn während traditionelle Vertreter von Kultiviertheit über "diese Rowdies" stets nur die Nase rümpften, gaben sie mit ihrer Musik (nicht nur) mir enorm viel emotionale Kraft, die ich gerade damals auch sehr dringend brauchte.

esiststeffen
30.08.2012, 21:06
Überhaupt nicht! Jana Elzner schreibt in ihrer Bachelorarbeit unter Berufung auf Gerhard Schweppenhäuser über die Anfänge populärer Unterhaltungskultur: "Menschen mit geringer Bildung machten erste ästhetische Erfahrungen und lernten eine komplette künstlerische Darbietung zu verfolgen." Von daher tritt Pop also ein stolzes Erbe an: nämlich eine wahrhaftig "demokratische" Unterhaltungstradition, in der Menschen ohne Voraussetzungen, die in der Regel privilegierten Gesellschaftsschichten vorbehalten sind, ihresgleichen ästhetische Erfahrungen vermitteln und Freude bereiten können.
Die Formulierung "Menschen mit geringer Bildung" im Zusammenhang mit meinen Ausführungen irritiert mich zwar etwas :zahn: ..... aber okay, hinsichtlich meines Wissens und meiner Erfahrungen über Popmusik mag das wohl sogar stimmen: Ich war 17/18, als Juli ihren Durchbruch hatten und ich sie für mich entdeckte, und bis zu dieser Zeit hätte ich mir auch nie träumen lassen, dass ich mich mal im Forum einer Band anmelden, ihre Singles und Merchandisingprodukte kaufen oder hunderte Kilometer für ein Konzert fahren würde .... die Erzählung "Nie hätte ich mir erträumen lassen ...." scheint ja auch zur Biografie so manch eines Lenaisten zu gehören ;)


Deinen übrigen Ausführungen stimme ich uneingeschränkt zu, insbesondere Deinem Begriff der Leidenschaftlichkeit, der mir seit 1989 immer vor Augen gestanden ist, als ich Who-Fan wurde. The Who sind ohnehin ein perfektes Beispiel für das, was Du schreibst, denn während traditionelle Vertreter von Kultiviertheit über "diese Rowdies" stets nur die Nase rümpften, gaben sie mit ihrer Musik (nicht nur) mir enorm viel emotionale Kraft, die ich gerade damals auch sehr dringend brauchte.
In dem Zusammenhang kommt mir eine weitere Verbindung zwischen Lena und Juli in den Sinn, die ich mir tatsächlich noch nie bewusst gemacht habe: Beide stammen aus sehr ähnlichen sozialen Verhältnissen - einer vergleichsweise "behüteten" mittelständischen Umgebung (alle fünf Julimitglieder haben Abitur gemacht und schon als Schüler zusammen in einer Band gespielt; später haben alle studiert, was sie aber dann nach ihrem musikalischen Durchbruch aufgegeben haben) und vor allem aus der popkulturellen Provinz, weitab von den "hippen" kulturellen Zentren der Republik, die sie wohl hauptsächlich aus dem Fernsehen kannten. Natürlich hat sich die Lebensumwelt der Julis und ihre Vernetzung in der Welt der Musik mittlerweile grundlegend gewandelt (Eva Briegel lebt im hippen Prenzlauer Berg und pflegt vielfältige Kontakte in die Berliner Pop-/Indie-Szene; Simon Triebel lebt in Hamburg und ist ein viel beschäftigter Songwriter, u.a. für Tim Bendzko oder Roger Cicero) - aber meiner Erinnerung nach sind die Umstände ihres Ursprungs (die 'Biederkeit' und 'Bürgerlichkeit' ihrer Herkunft) auch bei ihnen immer mal wieder thematisiert worden, so wie es wohl auch bei Lena war ;)


Bei deinen Ausführungen zu 'The Who' erinnere ich mich an die Geschichte meiner eigenen Familie: Mein Großvater rümpfte stets die Nase über die "Hottentottenmusik", wenn mein Vater in den 70ern den Beat Club sah ;)
Und da wird mir auch noch ein Aspekt bewusst, der wohl so ein bisschen ins Themenfeld "Deutungshoheit" gehört: Als in den 60ern und 70ern eine eigenständige Pop- und Jugendkultur entstand, zeigte sich die ältere und etablierte Generation pikiert bis entsetzt und strafte diese "Hottentottenmusik" wenn nicht mit offener Ablehnung, so doch zumindest mit Ignoranz. Heute hingegen versucht die etablierte Generation die Popmusik vielmehr anzubiedern, um möglichst jung und up-to-date zu erscheinen und sich bei der Jugend anzubiedern ;) (oder sie sogar zu zahlenden Kunden zu erziehen?)
Sehr schön gesehen hat man das mMn bei der olympischen Eröffnungs- und Schlussfeier: Das war ja im Prinzip ein einziges großes knallig-buntes Popfestival - obwohl die Olympischen Spiele nach wie vor in erster Linie von ergrauten Anzugträgern organisiert werden. Hätte man sich in München 1972 einen Auftritt von The Who oder den Stones vorstellen können? :)

earplane
30.08.2012, 21:22
Hängt vielleicht damit zusammen dass die Jugend von gestern die ergrauten Anzugträger von Heute sind. ;)

Tiny Tim
30.08.2012, 21:22
Die Formulierung "Menschen mit geringer Bildung" im Zusammenhang mit meinen Ausführungen irritiert mich zwar etwas :zahn:

Ts ts! Von einem Germanisten kann ich wohl genaues Lesen erwarten!


Jana Elzner schreibt in ihrer Bachelorarbeit unter Berufung auf Gerhard Schweppenhäuser über die Anfänge populärer Unterhaltungskultur: "Menschen mit geringer Bildung machten erste ästhetische Erfahrungen und lernten eine komplette künstlerische Darbietung zu verfolgen."

;)

Spaß beiseite: Ich habe einmal gehört, dass 99% der heutigen Bevölkerung Deutschlands von niederen Schichten abstammen. Das restliche Prozent bildet auch heute noch die Oberschicht.

Brummell
30.08.2012, 21:24
Die Formulierung "Menschen mit geringer Bildung" im Zusammenhang mit meinen Ausführungen irritiert mich zwar etwas :zahn: ..... aber okay, hinsichtlich meines Wissens und meiner Erfahrungen über Popmusik mag das wohl sogar stimmen: Ich war 17/18, als Juli ihren Durchbruch hatten und ich sie für mich entdeckte, und bis zu dieser Zeit hätte ich mir auch nie träumen lassen, dass ich mich mal im Forum einer Band anmelden, ihre Singles und Merchandisingprodukte kaufen oder hunderte Kilometer für ein Konzert fahren würde .... die Erzählung "Nie hätte ich mir erträumen lassen ...." scheint ja auch zur Biografie so manch eines Lenaisten zu gehören ;)


In dem Zusammenhang kommt mir eine weitere Verbindung zwischen Lena und Juli in den Sinn, die ich mir tatsächlich noch nie bewusst gemacht habe: Beide stammen aus sehr ähnlichen sozialen Verhältnissen - einer vergleichsweise "behüteten" mittelständischen Umgebung (alle fünf Julimitglieder haben Abitur gemacht und schon als Schüler zusammen in einer Band gespielt; später haben alle studiert, was sie aber dann nach ihrem musikalischen Durchbruch aufgegeben haben) und vor allem aus der popkulturellen Provinz, weitab von den "hippen" kulturellen Zentren der Republik, die sie wohl hauptsächlich aus dem Fernsehen kannten. Natürlich hat sich die Lebensumwelt der Julis und ihre Vernetzung in der Welt der Musik mittlerweile grundlegend gewandelt (Eva Briegel lebt im hippen Prenzlauer Berg und pflegt vielfältige Kontakte in die Berliner Pop-/Indie-Szene; Simon Triebel lebt in Hamburg und ist ein viel beschäftigter Songwriter, u.a. für Tim Bendzko oder Roger Cicero) - aber meiner Erinnerung nach sind die Umstände ihres Ursprungs (die 'Biederkeit' und 'Bürgerlichkeit' ihrer Herkunft) auch bei ihnen immer mal wieder thematisiert worden, so wie es wohl auch bei Lena war ;)


Bei deinen Ausführungen zu 'The Who' erinnere ich mich an die Geschichte meiner eigenen Familie: Mein Großvater rümpfte stets die Nase über die "Hottentottenmusik", wenn mein Vater in den 70ern den Beat Club sah ;)
Und da wird mir auch noch ein Aspekt bewusst, der wohl so ein bisschen ins Themenfeld "Deutungshoheit" gehört: Als in den 60ern und 70ern eine eigenständige Pop- und Jugendkultur entstand, zeigte sich die ältere und etablierte Generation pikiert bis entsetzt und strafte diese "Hottentottenmusik" wenn nicht mit offener Ablehnung, so doch zumindest mit Ignoranz. Heute hingegen versucht die etablierte Generation die Popmusik vielmehr anzubiedern, um möglichst jung und up-to-date zu erscheinen und sich bei der Jugend anzubiedern ;) (oder sie sogar zu zahlenden Kunden zu erziehen?)
Sehr schön gesehen hat man das mMn bei der olympischen Eröffnungs- und Schlussfeier: Das war ja im Prinzip ein einziges großes knallig-buntes Popfestival - obwohl die Olympischen Spiele nach wie vor in erster Linie von ergrauten Anzugträgern organisiert werden. Hätte man sich in München 1972 einen Auftritt von The Who oder den Stones vorstellen können? :)

Na wenn schon dann bitte mit Kraftwerk, Amon Düül, Faust, Ton Steine Scherben etc :D

esiststeffen
30.08.2012, 21:52
@Walter: In dem Fall versteh ichs dann aber doch nicht recht: Spielst du auf die Anfänge der Popmusik vor ~50 Jahren an? Machten also Elvis oder die Beatles Musik für die Unterschicht? Oder gehst du noch viel weiter zurück in der Vergangenheit und denkst zB an dörfliche Tanzvergnügungen? Ansonsten kommen mir als Germanist noch spätmittelalterliche Fastnachtsspiele in den Sinn; die wirst du aber eher nicht meinen ;)
In beiden Fällen ist mir der Zusammenhang zu meinem vorherigen Beitrag, auf den du dich ja bezogen hast, nicht ganz klar: Ob jemand viel oder wenig Bildung hat, wäre für mich nur mittelbar ein Kriterium dafür, ob jemand sich im Musikgeschmack am Mainstream orientiert oder sich seinen ganz eigenen Geschmack herausbildet. Klar mag es klassenbedingte Unterschiede geben, von welcher Musik man sich angesprochen fühlt (die Beobachtung, dass zB im Juliforum Menschen ohne Abitur kaum vertreten sind, ist mir auch schon aufgefallen); aber andererseits haben doch gerade viele musikalische Subkulturen (Hip Hop fällt mir nur gerade so ein) ihre Anfänge in den "Ghettos" der Unterpriviligierten genommen, ehe sie ihren Weg in die Charts und zu den Majorlabels gefunden haben, oder seh ich das falsch? :hmm:



Hängt vielleicht damit zusammen dass die Jugend von gestern die ergrauten Anzugträger von Heute sind. ;)
Naja, ist auch Ansichtssache .... wer in den 70ern Pink Floyd, Queen oder meinetwegen auch Ton Steine Scherben mochte, muss deshalb heute auch nicht zwangsläufig einen Draht zu, sagen wir, Rihanna oder Bushido haben ;)

Tiny Tim
30.08.2012, 22:27
@esiststeffen: OK, wenn das so unklar erscheint, auf welchen Zeitraum ich mich beziehe, muss ich halt noch mal Jana Elzner zitieren:

"Geht man zurück zu den Anfängen populärer Kultur, so erfreuten sich die Menschen bis ins 19. Jahrhundert an Akrobaten, umherziehenden Theatertruppen auf Rummelplätzen, an Sängern oder fahrenden Musikanten. Die in Zeiten der Industrialisierung entstehenden Arbeiterquartiere in den Städten waren Orte, an denen Menschen innerhalb der Masse anonym nebeneinander lebten. Die Abwanderung in die städtischen Gebiete hatte zur Folge, dass Menschen aus ihren früheren sozialen Bindungen und kulturellen Überlieferungen herausgerissen wurden. Im gleichen Zuge gewannen sie jedoch neue Selbstsicherheit, die sie aus religiösen und kulturellen Bevormundungen früherer Gemeinschaften befreite. In der geringen Zeit, die ihnen noch für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse blieb, wählten sie das Vergnügen. Sie wollten unterhalten werden und aufregende, neue, ästhetische Reize erleben. Parallel zur Ausbeutung ihrer Arbeitskraft und der Urbanisierung entwickelte sich in Europa ein Markt mit einer Vielzahl an Unterhaltungsangeboten. Unterhaltung schulte die Menschen fröhlich zu sein und bot ihnen die Möglichkeit, sich nach getaner Arbeit zu entspannen. Menschen mit geringer Bildung machten erste ästhetische Erfahrungen und lernten eine komplette künstlerische Darbietung zu verfolgen (Schweppenhäuser, S. 80 f.)." (Elzner, S. 5 f.)

Und das mit der Bildung ist ebenfalls hauptsächlich auf die damalige Zeit bezogen, als die niederen Bevölkerungsschichten (von denen angeblich 99% der heutigen Bevölkerung Deutschlands abstammen) von jeglicher Bildung ausgeschlossen waren, also auch von musischer Bildung. Heute dagegen ist die Bildungsdiskriminierung differenzierter; allgemein schulische Bildung ist mehr oder weniger weit verbreitet (wobei die Unterschicht immer mehr abgehängt wird), während aber höhere musische Bildung weiterhin ein Privileg gehobener Bevölkerungsschichten darstellt. Kaum etwas bringt mehr Distinktionsgewinn als eine formelle Ausbildung in Violine, Klavier und Komposition. Von daher steht Pop auch heute noch in einer guten "demokratischen" Tradition einer Unterhaltungskultur "für alle".

Randwer
30.08.2012, 22:31
Unter dem Begriff 'Pop' verstehe ich einerseits eine sehr grobe Genre-Spezifizierung. Noch gröber wären nur noch 'Musik' und dann 'Klang'.
Wenn ich ein musikalisches Werk aber irgendwie unbedingt in eine Schublade stecken möchte, dann bevorzuge ich aber eine feinere Einteilung.

Doktor Landshut
30.08.2012, 22:34
Unter dem Begriff 'Pop' verstehe ich einerseits eine sehr grobe Genre-Spezifizierung. Noch gröber wären nur noch 'Musik' und dann 'Klang'.
Wenn ich ein musikalisches Werk aber irgendwie unbedingt in eine Schublade stecken möchte, dann bevorzuge ich aber eine feinere Einteilung.

Ich habe da eine ziemlich oberflächliche Einteilung: Pop ist mit wenigen Ausnahmen alles, was nicht länger als 5 Minuten dauert :ugly:.

maybear
30.08.2012, 22:38
Ich denke, Pop ist beides, einerseits das Genre innerhalb der U-Musik (und umfaßt damit auch die Rockmusik), andererseits aber auch wieder eine Unterkategorie der Kategorie Pop ...

bates
30.08.2012, 23:24
Man sollte nicht vergessen, dass Pop bei seiner Explosion in den 1960er Jahren auch eine Selbstermächtigung der Jugend war, die sich in totaler Abgrenzung zum Vorangegangenen selbst eine "Deutungshoheit" über ihr Leben errungen hat, die das ästhetisch wie ethisch unerträglich gewordene, auf ewig korrumpierte Alte komplett in die Tonne getreten hat. Heute, wo Pop als kommerzieller Massenbetrieb jede Facette des Alltags durchdringt und die unendlich diversifizierten Stilrichtungen alle vor sich hinbrodeln, vergisst man leicht, was für eine Umwälzung sich in den 1960er Jahren vollzogen hat - im 20. Jahrhundert absolut singulär. Während, sagen wir mal, die Jahre 2002 und 2009 sich voneinander popkulturell nicht sonderlich unterscheiden, liegen zwischen den Jahren 1962 und 1969 - die Wirkungsphase der Beatles - ganze Galaxien, es war sprichwörtlich nichts mehr so wie zuvor. 1962, als man vier Jungs mit Wischmobfrisuren in Anzügen allen Ernstes als "Langhaarige" empfunden hat, hätten sich die Spießbürger in ihren schlimmsten Albträumen noch nicht ausmalen können, wie "Langhaarige" 1969 aussehen würden, ein jäh durch ein Wurmloch gefallenes Foto von, sagen wir, Frank Zappa & the Mothers of Invention wäre wohl als Beweis für die Existenz außerirdischen Lebens durchgegangen - das indes solche Typen mitten im Zentrum einer Jugendkultur stehen würden, die am Ende des Jahrzehnts unübersehbar in alle Bereiche des Alltags eingedrungen ist, hätte niemand für möglich gehalten.

Die Publikationsorgane des Pop, von denen in diesem Thread und woanders im Forum oft die Rede ist, entstammen ursprünglich dieser Bewegung selbst, es sind Sprachrohre, die sie sich selbst geschaffen hat - das gilt von "Rolling Stone" bis in Deutschland zur legendären Zeitschrift "Sounds" und später "Spex". Wo es heute selbst ein FAZ-Redakteur schick finden mag, eine Metallica-CD zu rezensieren, da wäre es damals absolut undenkbar gewesen, dass das bürgerliche Feuilleton sich mit Popmusik beschäftigt. Nein, diesen Publikationsraum, den musste man sich selbst erst erschaffen. (Für die Musikmagazine der diversen Stilrichtungen von Metal bis HipHop gilt das eingeschränkt bis heute.) Die Autoren dieser Magazine hatten damals noch das klare Bewusstsein, Teil einer Gegenkultur zu sein, und auch eine klare politische Haltung (das gilt auch für die von Sundermeier so geschmähte "Spex").

Die große Tragik ist nun, dass Popmusik heute zwar in die Feuilletons eingezogen ist, das Resultat aber nicht etwa ist, dass die Feuilletons von einer früheren Gegenkultur vereinnahmt wurden, sondern im Gegenteil die Gegenkultur feuilletonisiert wurde. Von wenigen Ausnahmen abgesehen - der kürzlich von Walter Sobchak erwähnte Georg Seeßlen ist eine - wird heute Popkritik betrieben wie jede andere bürgerliche Kunstkritik auch, sie ist durch und durch arriviert; geschmäcklerisch statt kritisch. Zumindest für die klassischen Publikationsorgane gilt das, die kannste heute samt und sonders vergessen; die missbrauchen ihre "Deutungshoheit" nur noch für eine Kanonbildung für die Schulbücher von morgen. Hoffnung gibt in der Tat das Internet - wenn irgendwo noch interessant und inspirierend und unkorrumpiert über Popmusik nachgedacht und geschrieben wird, dann sicher eher in der Blogosphäre als im "musikexpress" oder "Rolling Stone".

j_easy
30.08.2012, 23:27
Pop, Pop, Pop peling - Herr Gieselmann kämpft auch um Deutungshoheit ... Ist fast immer schön zu lesen.

http://gieselmann.typepad.com/blog/dietmar-poppeling/

Tiny Tim
31.08.2012, 00:07
@bates: Ganz hervorragend, vielen Dank für diese sehr instruktive Darlegung. Tja, da könnte man fast wehmütig werden, dass man (also ich ;)) sowas wie spex, als es noch interessant war, noch nicht gelesen hat - wenn da nicht diese exquisite Arschlöchigkeit gewesen wäre, die Jörg Sundermeier so betont. ;)

Zum Glück gibt's ja das hier: http://www.lenaisten.de/category/flash-blog/ :D
(Ganz im Ernst: angesichts der geschmäcklerischen Herablassung, mit der die feuilletonisierte (Indie-)Musikpresse Lena abtut, ist das, was wir im Lenaisten-Blog tun, eine ebensolche Selbstermächtigung wie die, mit der die ursprünglichen Popmagazine (auch der Rolling Stone hat ja mal klein angefangen) der feindseligen Herablassung des bürgerlichen Establishments entgegentraten.)

Peter M. aus V.
31.08.2012, 01:54
@bates: Genau das, was Du so klar darstellst, ist der Aspekt, der der Diskussion hier noch fehlte.

Ich wollte nach der Lektüre der Beiträge schreiben, dass "Deutungshoheit" in jedem Fall angemaßt ist, immer ein "Ich weiß es besser" enthält, von oben nach unten (oder von innen nach außen) denkt und "Wahrheit" zu vermitteln sucht. Aus der Sicht des Deutenden mag dieses Denken ja berechtigt sein; er verfügt wohl über die Kriterien und die Mittel zur Bewertung - aber eben nur Woben" oder "innen". Mit der tatsächlichen "Be-Deutung", dem Wert des Bewerteten hat das oft nichts zu tun, gerade im Pop.

Rock und Pop als neu entstandene Jugend- und Abgrenzungskultur hatte ich auch als "Sonderfall" im Kopf; aber Dein Begriff "Selbstermächtigung" und der Hinweis, dass die Publikationen Teil dieser Kultur waren, ändert den Blick ein wenig. Dem, der aktiv an der Entstehung einer Musik beteiligt ist, kann man ja kaum das Recht zur Deutung des eigenen Produkts, der eigenen Ausdrucksformen absprechen. Also: akzeptierte Deutungshoheit von innen. Aber die Zeit verfestigt die Strukturen, die musikalischen wie die im Denken, und die Deutungen werden zum Werkzeug der Abgrenzung, ja der Abwertung. Manchmal denke ich, inzwischen ist die Abgrenzung innerhalb der Jugend- und Musikszene wichtiger geworden als die gegenüber der Elterngeneration. Dazu trägt natürlich bei, dass diese ja selbst durch Popkultur sozialisiert sind. Aber ich schweife ab.

Richtig ist, dass das "bürgerliche Feuilleton" inzwischen glaubt, im Pop ebenso zuhause zu sein wie in traditionellen Kulturbereichen. Allerdings, so verstehe ich auch Dich, sind die Adressaten der Beiträge, der Deutungsversuche, gar nicht die Betroffenen. Die meisten Musiker, die Musik um ihrer selbst machen, interessieren sich herzlich wenig für die Wertschätzung eines sich professionell gebenden Zeitungsredakteurs. Und die Konsumenten schon mal gar nicht. Die wollen, da hat @esiststeffen völlig recht, die Musik nicht analysieren, nicht intellektuell verstehen, sie wollen sie genießen, emotional, direkt, meist unter Ausschaltung der kritischen Fähigkeiten des Gehirns. (Ausnahmen, z. B. im Inide- Sektor, bestätigen die egel.) Musik wird primär gefühlt. (Deshalb ist sie auch so wirksam.) Die Analysen sind etwas für die Analysten, die Deutungen können sie für sich behalten.

Zur Wirkungslosigkeit von "professionellen" Deutungen tragen sicher die wahnsinnige Aufsplitterung der Musikszene bei (Die Probleme, Pop zu definieren, kommen ja nicht von ungefähr.) und das Internet bei; beides potenziert sich. Das Netz hilft bei der Verbreitung neuer, nicht unbedingt kommerzieller Ideen; gleichzeitig werden individuelle, nicht für allgemeingültig erklärte, machmal minimalistische "Deutungen", Bewertungen, Empfehlungen verbreitet. Bedien dich - wenn du willst. Wenn nicht, ist auch okay. Individualisierung, so wie sie in der ganzen Gesellschaft zum Standard wird.

Nicht geklärt ist damit die Frage, wie bestimmte Musikstile, oder noch dezidierter: bestimmte Titel erfolgreich werden. Die Mechanismen, die dazu beitragen, sind meiner Meinung nach unabhängig von Deutungs- und Erklärungsprozessen. Eigentlich kann man den Erfolg eines Songs sowieso erst erklären, nachdem er eingetreten ist. Insbesondere dann, wenn es sich um Überraschungserfolge handelt.

Vielleicht noch ein Gedanke zu "Menschen mit geringer Bildung", die über den Pop lernen, komplexere Musik zu verfolgen. (Ich hoffe, ich gebe nichts falsch wieder.) Vor der Industrialisierung war das eigene Musizieren, durchaus mit Instrumenten, auch in unteren Schichten der Normalfall, viel mehr als heute. Der harte Arbeitsalltag dieser Zeit nahm die Gelegenheit, der Rundfunk und die Entwicklung von Tonträgern die Notwendigkeit selbst Musik zu machen. Heute ist es tatsächlich ein Privileg, ein Instrument zu lernen, und eine Ausnahmeerscheinung, selbst zu singen.

Spannendes Thema!

esiststeffen
31.08.2012, 03:23
Die meisten Musiker, die Musik um ihrer selbst machen, interessieren sich herzlich wenig für die Wertschätzung eines sich professionell gebenden Zeitungsredakteurs. Und die Konsumenten schon mal gar nicht. Die wollen, da hat @esiststeffen völlig recht, die Musik nicht analysieren, nicht intellektuell verstehen, sie wollen sie genießen, emotional, direkt, meist unter Ausschaltung der kritischen Fähigkeiten des Gehirns. (Ausnahmen, z. B. im Inide- Sektor, bestätigen die egel.) Musik wird primär gefühlt. (Deshalb ist sie auch so wirksam.) Die Analysen sind etwas für die Analysten, die Deutungen können sie für sich behalten.
Wobei ich hervorheben muss: Selbstredend kann und soll auch ein "Fan" die von ihm bevorzugte Kunst aus unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachten und dabei immer wieder Neues entdecken. Je öfter man ein Album hört, je öfter man sich Live-Mitschnitte anschaut, je öfter man Interviews 'seiner' Band sieht oder liest, je öfter man das Booklet des Albums durchblättert - immer wieder stößt man auf Aspekte, die einem vielleicht noch nicht bekannt oder nicht bewusst waren. Bei einem Film oder einem Buch gilt das vielleicht noch mehr als bei einer Band. Als Germanist schäme ich mich nur ein ganz klein wenig zu sagen, dass mich in meinem ganzen Leben niemals eine Lektüre so sehr beeinflusst und mein Leben so nachhaltig geprägt hat wie vor nunmehr zwölf Jahren die Harry-Potter-Bücher, ich schlage bis heute gerne eines davon auf und fange an zu lesen, entdecke Details, die mir noch nie aufgefallen sind, und spinne sie in Gedanken fort. Und ich ärgere mich heute noch über die Attitüde manch eines Literaturwissenschaftlers und Kritikers, dass "solche" Bücher der ernsthaften Betrachtung doch gar nicht wert sind (vor ca. zwei Jahren hielt im Rahmen einer Vorlesung, die ich an meiner Uni besuchte, ein Mensch einen Gastvortrag, der wohl eine Literatursendung auf einem Kulturradiosender moderiert und mit dem ich dann auch eine kleine Diskussion dazu hatte :))
Etwas anders stellt sich die Sache dar, wenn damit eine Wertung des Gehörten/Gesehenen/Gelesenen verbunden ist. Natürlich kann man sagen "X gefällt mir" oder "Y gefällt mir nicht" (auch ich könnte genug Bands aufzählen, mit denen ich gar nix anfangen kann), aber der Konsument trifft eine solche Entscheidung immer intuitiv, aus dem Bauch heraus, nicht nach Argumenten. Ein anderes Instrumentarium als die Einteilung in "Gefällt mir" oder "Gefällt mir nicht" steht ihm nicht zwangsläufig (ich kenn zugegebenermaßen auch genug Julifans, die selber ein Instrument spielen) zur Verfügung. Wie gesagt, ich bin nicht Julifan geworden, weil sie besonders "gute" Musik machen, sondern weil in diesem Fall einfach meine damalige Lebenssituation und die Musik der Julis (zunächst nur die erste Single, dann auch die zweite, schließlich zu meiner unbändigen Freude das ganze Album) so perfekt zusammenpassten, weil die Lieder einfach zu 100% das widerspiegelten, was ich damals, mit 17/18 Jahren, erlebte, fühlte und hoffte. Bei Harry Potter, auch wenn die Situation, wie ich zu den Büchern kam, eine etwas andere war (damals kam wohl kein Dreizehnjähriger an ihnen vorbei), war es ganz ähnlich, ich fand mich einfach in den Büchern wieder; und zwar nicht nur weil ich eine Brille habe :ugly:



Ein ganz anderer Punkt ist mir übrigens zu dem Thema "Starkult", das ja schon ziemlich früh in diesem Thread zur Sprache kam, noch eingefallen: Starkult mit kreischenden Teenies, die beim Anblick ihrer Stars nahezu durchdrehen, die ihnen am liebsten überallhin folgen können, die ihnen schmachtende Liebesbriefe schreiben und die jedes Autogramm und jedes sonstige Andenken hüten wie eine Reliquie, aber auch die permanente Präsenz dieser Stars in den Medien, selbst wenn es nur um die kleinsten und banalsten Details geht - all diese Aspekte des Starruhms sind ja schon so alt wie die Popmusik selbst, angefangen von Elvis in den 50ern und dann weiter zu den Beatles und Stones. Allerdings fällt mir eine Sache auf, wenn wir mal die Stars betrachten, denen ein solcher Hype in jüngerer Zeit zuteil geworden ist: Da wären aus den 90ern die zahlreichen Boybands, bald darauf Britney Spears oder Christina Aguilera, in den 2000ern dann vor allem Tokio Hotel und die unzähligen Castingsternchen aus DSDS & Co, heute Justin Bieber oder Miley Cyrus. Wenn wir diese Namen mal so durchgehen, sind das alles Künstler, bei denen es praktisch keine 'neutralen' Unterstützer gibt (oder wo ich es mir zumindest nicht vorstellen kann), die also einerseits ihre treue und entschlossene Fanbase haben und andererseits von allen anderen Beobachtern abgelehnt oder bestenfalls mitleidig belächelt werden. Elvis oder die Beatles gelten hingegen als Legenden, von denen man wohl auch noch in Jahrhunderten ehrfurchtsvoll sprechen wird. Werden Tokio Hotel oder Justin Bieber in dreißig oder fünfzig oder hundert Jahren ein ähnliches Standing haben? Ich kanns mir nicht so recht vorstellen :hmm:
(Auch hier erkennt man mal wieder eine tatsächliche Besonderheit Lenas, die ich auch 2010 schon als solche wahrgenommen habe: Trotz ihrer Herkunft aus einem Fernsehcasting und der nicht zu leugnenden Verwubbtheit ihrer Fans wird (oder wurde?) sie auch von seriöseren und neutraleren Beobachtern als mediale Erscheinung ernstgenommen und man konnte sich zumindest damals zu ihr bekennen, ohne sich komplett der Lächerlichkeit preiszugeben ;))

maybear
31.08.2012, 07:16
Nun, Christina Aguilera würde ich schon zu den ernstzunehmenden Künstlerinnen zählen, wohl mehr als Kylie Minogue (die sich ja inzwischen etabliert hat) in ihrem Alter. Robbie Williams wurde auch vom Boyband-Teenieidol zu einem auch bei Älteren anerkannten Sänger, na und bei Teeniestars wie Tokio Hotel muß man halt mal abwarten. Und eine Lady Gaga hat ja musikalisch durchaus mehr drauf als sie im allgemeinen zeigt, wer weiß wie sie sich entwickelt.

bates
31.08.2012, 08:18
Richtig ist, dass das "bürgerliche Feuilleton" inzwischen glaubt, im Pop ebenso zuhause zu sein wie in traditionellen Kulturbereichen. Allerdings, so verstehe ich auch Dich, sind die Adressaten der Beiträge, der Deutungsversuche, gar nicht die Betroffenen. Die meisten Musiker, die Musik um ihrer selbst machen, interessieren sich herzlich wenig für die Wertschätzung eines sich professionell gebenden Zeitungsredakteurs. Und die Konsumenten schon mal gar nicht. Die wollen, da hat @esiststeffen völlig recht, die Musik nicht analysieren, nicht intellektuell verstehen, sie wollen sie genießen, emotional, direkt, meist unter Ausschaltung der kritischen Fähigkeiten des Gehirns. (Ausnahmen, z. B. im Inide- Sektor, bestätigen die egel.) Musik wird primär gefühlt. (Deshalb ist sie auch so wirksam.) Die Analysen sind etwas für die Analysten, die Deutungen können sie für sich behalten.

Hier möchte ich aber doch sachte widersprechen. Ich finde nicht, dass die Analysten ihre Deutungen für sich behalten sollen - ich bin dankbar dafür, dass es sie gibt. Eine Meinungsführerschaft zu reklamieren ist das eine, Freude an der Analyse zu haben ist etwas anderes. Und auch wenn Musik primär emotional wirkt, kann man ja trotzdem über sie nachdenken - das eine schließt das andere nicht aus. Ich glaube, man kann da für alle Künste zwei Rezipienten-Typen unterscheiden: Den einen macht es Spaß, ein Gedicht zu analysieren, den anderen macht es das Gedicht kaputt. Ich gehöre zu ersten Sorte. Nicht nur Musik, auch Romane oder Filme haben eine starke emotionale Wirkung auf mich - zugleich macht es mir Spaß, sie zu analysieren (sie einzuordnen, mit anderen Werken zu vergleichen, in ihrem gesellschaftlichen Rahmen zu sehen, usw. usf.), all das zerstört ihre Wirkung nicht, sondern macht sie stärker.* Übrigens ist diese Art von Betrachtung das, was Kritik im eigentlichen Sinne meint (und was gute Kritik immer noch macht.) Kritik ist kein Warentest, das ist ein Missverständnis. Kritik dient der Erkenntnis.

*Ist bei mir im Fall Lena genauso: Die Künstlerin und Persönlichkeit berührt mich, zugleich fasziniert sie mich als "popkulturelles Phänomen" - das geht wunderbar zusammen, eine Vollbedienung für Herz und Verstand.

Tiny Tim
31.08.2012, 11:58
(Auch hier erkennt man mal wieder eine tatsächliche Besonderheit Lenas, die ich auch 2010 schon als solche wahrgenommen habe: Trotz ihrer Herkunft aus einem Fernsehcasting und der nicht zu leugnenden Verwubbtheit ihrer Fans wird (oder wurde?) sie auch von seriöseren und neutraleren Beobachtern als mediale Erscheinung ernstgenommen und man konnte sich zumindest damals zu ihr bekennen, ohne sich komplett der Lächerlichkeit preiszugeben ;))

Das hat allerdings sicherlich auch damit zu tun, dass Lena im Unterschied zu Tokio Hotel und anderen Teenieboppers (um mal einen historischen Checkerbegriff zu gebrauchen ;)) von Anbeginn auch und gerade von "gebildeten" Erwachsenen geliebt worden ist. Wer sich da in Verächter- und Spötterpose wirft, geht insofern selbst ein kleines Risiko ein, weil er sich nicht sicher sein kann, dass er den gewünschten Effekt erzielt. Ich habe selbst in meinem Freundes- und Bekanntenkreis die unterschiedlichsten Reaktionen auf Lena und meine Sympathie für sie erlebt, auch spöttische; aber gerade die Tatsache, dass ich (sicherlich nicht als einziger) nicht bereit war, mir ein X für ein U vormachen bzw. mir meine Sympathie für Lena ausreden oder auch nur den Spott einfach so im Raum stehen zu lassen, macht für sich genommen ja bereits einen erheblichen Unterschied aus zu, sagen wir, Tokio Hotel, die zwar auch eine energische Unterstützung durch ihre Fans erhalten - nur sind die samt und sonders selber Teenager und stellen als solche für Erwachsene kein "Diskursrisiko" im gerade erörterten Sinne dar. Und zwar nicht nur deshalb, weil es Erwachsenen leichter fällt, sich über die Meinung von Teenagern hinwegzusetzen, sondern auch deshalb, weil es bei aller Relativität im Pop doch auch deutlich erkennbare Unterschiede zwischen Lena, ihrer Musik und ihrem Auftreten einerseits und Tokio Hotel bzw. Bill Kaulitz andererseits gibt. Bei letzteren waren Inszenierung, elaboriertes Image und prononcierte Gefühligkeit der Musik samt der Texte (ich denke, das ist noch sehr milde ausgedrückt) immer entscheidende Merkmale und Gründe ihres Erfolgs; bei Lena dagegen war es ja von Anbeginn ihre besondere individuelle Ausstrahlung "ohne künstliche Zusätze", die Begeisterung hervorrief. Dass letzteres bei Erwachsenen dann eben auch mehr Eindruck macht als ersteres, ist sozusagen der objektive Grund für Deine Wahrnehmung.

rix
31.08.2012, 12:12
:thankyou: Superinteressante Diskussion, die hier gerade stattfindet. Der Thread steht mal wieder für ein Qualitätsmerkmal dieses Forums - kompetente Foristen, die interessante Themen ansprechen!

Achtung langer Post! Hier das Executive Summary: Geld regiert die Welt und alle Macht den Konsumenten.

----------------------------------


Ich finde diesen Beitrag aus dem Rolling-Stone-Forum sehr gut:

Schon seit gestern Mittag schwirrt mir eine Aussage zum Diskurs im Kopf herum und der Post aus dem Rolling-Stone-Forum war der Auslöser, es jetzt auszuformulieren (hatte gestern keine Zeit):

<Präambel>
Ich möchte zunächst einen ganz profanen Aspekt in die Diskussion einbringen: Geld.

Der Kulturbetrieb (zumindest der deutsche) lässt sich in zwei Gruppen einteilen. Der (meist staatlich) subventionierte und der, der ohne Subventionen auskommen muss. Pop fällt ganz klar in die zweite Gruppe. Die Subventionslosigkeit ist sogar einer der Pop-definierenden Parameter - kein exklusiver, aber er ist einer.

D.h. dass Pop Geld verdienen muss bzw. dass sich mit Pop Geld verdienen lässt.
</Präambel>

Jetzt zu meinem eigentlichen Statement: Wir, die Konsumenten sind die Deutungshoheit im Pop.

Warum? Weil letztendlich die Konsumenten kaufen. Wir kaufen die Musik, wir kaufen die Zeitungen/Zeitschriften, wir hören die Radiosender, wir sehen die TV-Programme, usw. usf. D.h. im Umkehrschluss: Nur was den Konsumenten gefällt (es soll ja gekauft werden bzw. im Kontext Werbung platziert werden) wird gespielt, gedruckt, gesendet - oder, um den Oberbegriff zu verwenden, wird veröffentlicht.

Wenn aber nur veröffentlicht wird, was den Konsumenten gefällt, dann bestimmen indirekt die Konsumenten, was veröffentlicht wird. Dass es nur indirekt erfolgt, hat zwei fundamentale Konsequenzen:

1) Die Reaktion der Veröffentlicher auf sich änderndes Konsumentenverhalten ist verzögert. Je nachdem, wie kurz der Feedback-Loop ist bzw. wie schnell ein Veröffentlicher sich anpassen kann (oder will), kann das wenige Tage bis Jahre dauern. Im extremsten Fall verschwinden Veröffentlicher, die sich nicht anpassen wollen. Nebenbei angemerkt: Hierbei handelt es sich um einen evolutionären Prozess. Ursache und Wirkung.

2) Da die Anpassungsverzögerung (Redaktionsgeschwindigkeit) unterschiedlich groß ist, kann der Einfluss auf das, was im Einzelnen veröffentlicht wird (also z.B. die einzelnen Songs), unter Umständen nicht sehr groß sein und sich dementsprechend nur auf die generelle Kunst-Richtung beziehen, die von einem Veröffentlicher bedient wird.

Ein gutes Beispiel hierfür ist der schon von anderen angesprochene deutsche Feuilleton, der sich ab einem bestimmten Zeitpunkt mit Pop beschäftigt hat. Das hat er hauptursächlich nicht getan, weil die Herausgeber und Autoren Pop gut fanden, sondern weil die Herren und Damen wussten/ahnten, dass ihre Leser über Pop im Feuilleton lesen wollten. Und hätte das keinen Beifall (= Käufer) gefunden, hätten die das Schreiben über Pop auch wieder eingestellt. Die woll(t)en ja keine Käufer/Hörer/Zuschauer verlieren.

Ein weiteres Beispiel sind die Formatradios dieser Nation, die alle mehr oder weniger dasselbe spielen. Wären sie nicht für unterschiedliche Regionen zuständig bzw. öffentlich-rechtlich und privat - die Konsumenten bräuchten nur einen Sender.

Kommen wir nun zum Internet und den sozialen Medien (wozu ich neben Twitter, Facebook & Co, auch Blogs und Foren zähle). Natürlich wollen Webseitenbetreiben und Betreiber der sozialen Medien auch Geld verdienen bzw. (wie der Lenaisten e.V. mit dem Betrieb dieses Forums) keinen Verlust machen. Weshalb sich die meisten Angebote über Werbung finanzieren. Für die Konsumenten ist das aber ein kleines Übel im Vergleich zum Vorteil des quasi uneingeschränkten Zugriffs auf Veröffentlichungen aller Art. Und hinzu kommt noch, dass der Konsument jetzt selbst zum Veröffentlicher werden kann (Stichwort „User Generated Content“). D.h. die Deutungshoheit der Konsumenten ist noch größer geworden.

Viele Konsumenten sind sich dieser eigenen Bedeutung noch nicht bewusst bzw. können noch nicht vernünftig damit umgehen. Stichwort Kommentarspalten, Gästebuch, Hater, Trolle usw. Ich bin da zuversichtlich, dass sich das einpendeln wird. Es handelt sich letztendlich um eine neue soziale Kompetenz, die sich die Konsumenten aneignen müssen. Und es ist bei weitem nicht die Erste. Daher meine Zuversicht.

Da ich der festen Überzeugung bin, dass Konsum von Veröffentlichung und damit verbunden Konsumentenmeinung und -macht in den nächsten Jahren zu einem Großteil ins Internet und den sozialen Medien verlagern wird, wird die Reaktionsgeschwindigkeit auf Änderungen des Konsumentenverhaltens drastisch steigen.

Somebody That I Used To Know von Gotye, Video Games von Lara Del Rey, Easy von Cro und Call Me Maybe von Carly Rae Jepsen sind uns ja noch gut in Erinnerung. Ohne soziale Medien wären diese Songs nicht so schnell (wenn überhaupt) in den Interessenfokus einer so großen Öffentlichkeit gerückt. Und es scheint dabei auf den ersten Blick unerheblich, ob es sich um Künstler handelt, die unabhängig von einem Major Label oder mit einem Major Label im Rücken agieren. Was wir aber nie vergessen dürfen: Es gibt Millionen anderer Künstler, die es trotz Internet bisher (noch) nicht zu Berühmtheit und Erfolg geschafft haben. Der Pop-Künstler muss also etwas „bieten“, das die Masse anspricht.

Ich bin gespannt auch euer Feedback.

Abschließende Anmerkungen:

* Da öffentlich-rechtliche Sendeanstalten über GEZ quasi-subventioniert sind, unterliegt deren Programmgestaltung nur teilweise den monetären Zwängen. Entsprechend deren Sendeauftrag findet sich bei diesen Anstalten auch nicht-populäres. Siehe Dritte Fernsehprogramme um Mitternacht.

* Ich bin mir nicht sicher, wessen Aufgabe es ist, neue Kunstrichtungen oder Künstler zu entdecken und bekannt zu machen. Die der Veröffentlicher oder die der Konsumenten. Am wahrscheinlichsten scheint mir eine Wechselwirkung zwischen beiden. Zeigt doch gerade das Internet mit der Verschmelzung von beiden Rollen, dass Neues schneller zum Massenphänomen werden kann.

EDIT: Heute erschein online der Zeit-Artikel vom 23.08.2012 Buchmarkt - Gigant ohne Geist (http://www.zeit.de/2012/35/Verlag-Buchhaendler-Amazon), der ausführlich von der bevorstehenden vollständigen "Übernahme" des Buchmarktes durch Amazon berichtet. Auf Seite sechs (http://www.zeit.de/2012/35/Verlag-Buchhaendler-Amazon/seite-6) wird das von klassischen Verlagen praktizierte Modell der Querfinanzierung und dessen Verfall angesprochen.


Das ist das viel zitierte Modell der Querfinanzierung. Man darf es getrost als die größte verlegerische Errungenschaft der Moderne bezeichnen. Eine Errungenschaft, die folgerichtig aus der Janusköpfigkeit des Buches hervorgegangen ist, die es im Zeitalter des Buchdrucks und des Urheberrechts angenommen hat. Seither ist das Buch, zumal das literarische, immer beides zugleich: eine Ware, mit der gehandelt wird, und ein Kulturgut, das sich jeglicher Form der Ökonomisierung, ja der Idee von Verwertbarkeit widersetzt.

Dieses Gebilde wird zusehends fragiler. Seit mindestens 30 Jahren lässt sich beobachten, wie die Warenform das Kulturelle immer weiter aushöhlt, wie McKinsey über Kafka siegt.

Der Verfall der Querfinanzierung lässt sich 1:1 auf die Musikindustrie übertragen, die früher Künstlern mehr Zeit gegeben hat, sich zu entwickeln und profitabel zu werden. Die schwindenden Gewinnmargen zwangen die Labels dazu, bei jedem Künstler auf Profit - ja sogar schnellen Profit zu setzen. Da frage ich mich, wann Apple/iTunes anfängt als Musik-Label aufzutreten. Das Amazon-Self-Publishing-Buch-Modell ist doch einfach übertragbar.

ranzig
31.08.2012, 14:59
Geld regiert die Welt und alle Macht den Konsumenten.

Ich bin da leider nicht so optimistisch. Deine Überlegungen verlagern m.E. die Fragestellung nur. Deutungshoheit im Pop hat demnach der, der bei möglichst vielen Kaufanreize auslöst. Und wenn man ehrlich ist, dannn entstehen diese Anreize nicht primär durch die (subjektiv empfundene) Qualität des Produkts, sondern auch dadurch, dass andere Emotionen angesprochen werden: Zugehörigkeit zu einer Peer-Gruppe, Neuigkeitswert, Statusüberlegungen etc. Und alle diese Emotionen werden durch Marketingmaßnahmen befeuert, die sich wiederum dazu diverser Medien bedienen. Und damit schließt sich der Kreis.

tl;dr:
Der rational handelnde Homo Oeconomicus existiert beim Pop nicht. Deutungshoheit kommt denen zu, die ein Pop-Produkt emotional aufladen können.

rix
31.08.2012, 15:18
Und alle diese Emotionen werden durch Marketingmaßnahmen befeuert, die sich wiederum dazu diverser Medien bedienen.
...
Deutungshoheit kommt denen zu, die ein Pop-Produkt emotional aufladen können.

D.h. du sprichst denen, die das Marketing betreiben, also den Labeln, die Deutungshoheit zu? Frage nur nach, ob ich dich richtig verstanden habe. Auch ein interessanter Ansatz.

Nur warum werden nur bestimmte Künstler mit imensem Marketing beworben? Ausführliche Antwort siehe den gerade oben von mir im Nachtrag noch zitierten Zeit-Artikel. Kurze Antwort von mir: Weil die Labels bei diesen Künstlern den größten Return-on-Invest erwarten. Tritt der nicht (mehr) ein, dann werden auch gute Namen gefeuert. Siehe Udo Lindenberg, der vor einigen Jahren nicht die Erfolge mehr aufweisen konnte und deshalb von seinem damaligen Label "entlassen" wurde.

Deine These wirft für mich eine weitere Frage auf: Kann man Deutungshoheit (mit großen Marketing-Budgets) erkaufen? Ich weiß es nicht.

esiststeffen
31.08.2012, 18:20
@Walter:
Nichts anderes wollte ich damit andeuten. Dass Lena von Anfang an auch ein Publikum in ihren Bann ziehen konnte, das ansonsten mit Castingshows im Privatfernsehen so gaaar nix am Hut hatte, stellte für mich damals bereits einen nicht unerheblichen Teil ihrer Faszination dar. Auch wenn es wohl nicht stimmt, dass 'klassische' Castingshows nur Teenies ansprechen: Klassische Castingstars vom Typ "Liebling aller Schwiegermütter" scheinen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil tatsächlich auch ebenjene anzusprechen; so hab ich mir etwa über Thomas Godoj (den ich künstlerisch noch für einen der besseren in seinem Metier halte) sagen lassen, dass sein Publikum keineswegs vorrangig aus Teenies, sondern vielmehr aus fünfzigjährigen Hausfrauen bestehe ..... also vielleicht Lenaismus in umgekehrter Form, wenn man so will ;) (ob Ähnliches auch für andere Teeniestars wie Tokio Hotel oder Justin Bieber gilt, ob also diese nicht nur schwärmerische Liebe, sondern auch Muttergefühle erwecken können, kann ich nicht beurteilen)



Hier möchte ich aber doch sachte widersprechen. Ich finde nicht, dass die Analysten ihre Deutungen für sich behalten sollen - ich bin dankbar dafür, dass es sie gibt. Eine Meinungsführerschaft zu reklamieren ist das eine, Freude an der Analyse zu haben ist etwas anderes. Und auch wenn Musik primär emotional wirkt, kann man ja trotzdem über sie nachdenken - das eine schließt das andere nicht aus. Ich glaube, man kann da für alle Künste zwei Rezipienten-Typen unterscheiden: Den einen macht es Spaß, ein Gedicht zu analysieren, den anderen macht es das Gedicht kaputt. Ich gehöre zu ersten Sorte. Nicht nur Musik, auch Romane oder Filme haben eine starke emotionale Wirkung auf mich - zugleich macht es mir Spaß, sie zu analysieren (sie einzuordnen, mit anderen Werken zu vergleichen, in ihrem gesellschaftlichen Rahmen zu sehen, usw. usf.), all das zerstört ihre Wirkung nicht, sondern macht sie stärker.* Übrigens ist diese Art von Betrachtung das, was Kritik im eigentlichen Sinne meint (und was gute Kritik immer noch macht.) Kritik ist kein Warentest, das ist ein Missverständnis. Kritik dient der Erkenntnis.

*Ist bei mir im Fall Lena genauso: Die Künstlerin und Persönlichkeit berührt mich, zugleich fasziniert sie mich als "popkulturelles Phänomen" - das geht wunderbar zusammen, eine Vollbedienung für Herz und Verstand.
Das könnte ich ganz genauso unterschreiben. Was ich aber nach wie vor betonen möchte und muss: Es sollte keine Pflicht eines Fans sein, sich in weitergehende Analysen des verehrten Gegenstands zu verlieren, statt einfach nur leidenschaftlich und instinktiv zu genießen. Das ist auch einer der Gründe, weswegen ich das Beispiel Harry Potter ins Spiel gebracht habe: Von Musik (sei sie von Juli, von Lena, von wem auch immer) verstehe ich nicht viel, da bin ich nur Genießer und faszinierter Laie. Von Büchern um einiges mehr; meiner Potterbegeisterung (auch heute noch) tut das keinen Abbruch. Ich könnte mir aber auch sehr gut vorstellen, mich mit Harry Potter wissenschaftlich zu beschäftigen. Genauso würde ich das auch mit Juli tun, wenn ich Musiktheoretiker wäre. Letzteres bin ich nun mal nicht, daher hab ich eben nur die Deutungshoheit als Fan und keine andere ;)



Zu der Frage, ob die Käufer den Musikmarkt beeinflussen, indem sie die CDs und die Kontzertkarten von Künstler X statt von Künstler Y kaufen, oder ob vielmehr der Musikmarkt die Käufer beeinflusst, indem sie durch geschicktes Marketing dazu gebracht werden, die CDs und die Konzertkarten von Künstler Y statt von Künstler X zu kaufen: Ich hatte mich in meinem allerersten Beitrag in diesem Thread schon einmal in Sachen Vergleich zwischen Lena und Roman geäußert. Beide hatten so ziemlich die gleiche Marketingmaschinerie im Rücken: die ARD und ProSieben, die öffentlich-rechtlichen Radiosender, Stefan Raab als eine der bekanntesten Medienpersönlichkeiten Deutschlands, Universal als Plattenfirma, Brainpool als Management und zu guter Letzt den ESC als die ganz große europäische Bühne. Trotzdem ist die eine durchgestartet wie eine Rakete, während der andere trotz unbestreitbar vorhandener sängerischer Befähigung bestenfalls Achtungserfolge verbuchen konnte. Leider ist auf diesen Punkt in der weiteren Diskussion dann überhaupt nicht mehr eingegangen worden :hmm:

Tiny Tim
31.08.2012, 18:55
Zu der Frage, ob die Käufer den Musikmarkt beeinflussen, indem sie die CDs und die Kontzertkarten von Künstler X statt von Künstler Y kaufen, oder ob vielmehr der Musikmarkt die Käufer beeinflusst, indem sie durch geschicktes Marketing dazu gebracht werden, die CDs und die Konzertkarten von Künstler Y statt von Künstler X zu kaufen: Ich hatte mich in meinem allerersten Beitrag in diesem Thread schon einmal in Sachen Vergleich zwischen Lena und Roman geäußert. Beide hatten so ziemlich die gleiche Marketingmaschinerie im Rücken: die ARD und ProSieben, die öffentlich-rechtlichen Radiosender, Stefan Raab als eine der bekanntesten Medienpersönlichkeiten Deutschlands, Universal als Plattenfirma, Brainpool als Management und zu guter Letzt den ESC als die ganz große europäische Bühne. Trotzdem ist die eine durchgestartet wie eine Rakete, während der andere trotz unbestreitbar vorhandener sängerischer Befähigung bestenfalls Achtungserfolge verbuchen konnte. Leider ist auf diesen Punkt in der weiteren Diskussion dann überhaupt nicht mehr eingegangen worden :hmm:

In dieser Hinsicht kann ich Dir nur zustimmen. Was zuletzt in diesem Thread dazu zu lesen war, widerspricht aller Alltagserfahrung sowie ja auch Jana Elzners Analyse. Erfolg ist nicht beliebig nach Rezept (re-)produzierbar; deshalb bleibt das Popbusiness für alle Beteiligten immer ein Hochrisikogeschäft.

ranzig
31.08.2012, 19:00
D.h. du sprichst denen, die das Marketing betreiben, also den Labeln, die Deutungshoheit zu? [..]
Nur warum werden nur bestimmte Künstler mit imensem Marketing beworben? [..]
Kann man Deutungshoheit (mit großen Marketing-Budgets) erkaufen? Ich weiß es nicht.

Nein, so nun auch wieder nicht. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass ein Vetrauen darauf, dass der Mehrheitswille sich unbeeinflusst durchsetzt und damit die alleinige Deutungshoheit hat, m.E. naiv ist. Es müssen ein paar Faktoren zusammenkommen: Das Pop-Produkt muss Potenzial haben und die entsprechende Unterstützung durch die Multiplikatoren/Meinungsmacher (nicht nur Labels, auch Presse/Medien etc.) erhalten. Vermutlich kann man fehlendes Potenzial auch durch ein größeres Marketingengagement zum Teil ausgleichen, ganz ohne geht es aber nicht.


Ich hatte mich in meinem allerersten Beitrag in diesem Thread schon einmal in Sachen Vergleich zwischen Lena und Roman geäußert. Beide hatten so ziemlich die gleiche Marketingmaschinerie im Rücken

Mag sein, aber sie hatten nicht die gleiche Ausgangsposition. Lena hatte den Vorteil, die erste zu sein, die aus einem Casting zum ESC geschickt wird und die einen deutlichen Kontrapunkt zu den bis dahin üblichen Unterschichten-Castings setzte. Beides mag Emotionen ausgelöst haben und zu einem gewissen Kaufanreiz geführt haben. Und dann hatte Lena natürlich auch das bessere Produkt/"Gesamtpaket" :zahn: Aber das habt Ihr ja schon herausgearbeitet.

Tiny Tim
31.08.2012, 22:05
Noch ein paar Bonbons aus dem Rolling-Stone-Forum (http://forum.rollingstone.de/showthread.php?t=8893&page=32):


was wären dann nun die wirklichen merkmale des garage-rocks? ;)


Dass er in Garagen gespielt wird.


Und das sollte man auch hören!! Nicht so wie bei den Oberstrebern von den Strokes! Das Garagentor muss winseln!

:zahn:

Tiny Tim
31.08.2012, 22:33
Zugabe:


Soll auch schon Bands gegeben haben, denen Mode und/oder Image wirklich noch wichtiger als Musik war - und trotzdem besser, aufregender, interessanter und "wichtiger" waren als irgendwelche öden farb- und konturlosen Langweiler, die meinten, ihre eingespielten versierten Handgriffe wären das Nonplusultra.

Oder: Mode + Musik x Image = Pop!

http://forum.rollingstone.de/showthread.php?p=1413306#post1413306



Hm, Einspruch euer Ehren: Rory Gallagher z.B. legte nie Wert auf Mode und Image, er wollte einfach nur gute Musik abliefern.

http://forum.rollingstone.de/showthread.php?p=1413343#post1413343



Einspruch abgelehnt!
Holzfällerhemd, Jeans und zerschlissene Strat sind sehr wohl ein Image. Imagelosigkeit geht gar nicht. So wie man nicht unpolitisch sein kann, indem man nicht zur Wahl geht.

http://forum.rollingstone.de/showthread.php?p=1413438#post1413438

esiststeffen
01.09.2012, 00:24
In dieser Hinsicht kann ich Dir nur zustimmen. Was zuletzt in diesem Thread dazu zu lesen war, widerspricht aller Alltagserfahrung sowie ja auch Jana Elzners Analyse. Erfolg ist nicht beliebig nach Rezept (re-)produzierbar; deshalb bleibt das Popbusiness für alle Beteiligten immer ein Hochrisikogeschäft.

Nein, so nun auch wieder nicht. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass ein Vetrauen darauf, dass der Mehrheitswille sich unbeeinflusst durchsetzt und damit die alleinige Deutungshoheit hat, m.E. naiv ist. Es müssen ein paar Faktoren zusammenkommen: Das Pop-Produkt muss Potenzial haben und die entsprechende Unterstützung durch die Multiplikatoren/Meinungsmacher (nicht nur Labels, auch Presse/Medien etc.) erhalten. Vermutlich kann man fehlendes Potenzial auch durch ein größeres Marketingengagement zum Teil ausgleichen, ganz ohne geht es aber nicht.

Mag sein, aber sie hatten nicht die gleiche Ausgangsposition. Lena hatte den Vorteil, die erste zu sein, die aus einem Casting zum ESC geschickt wird und die einen deutlichen Kontrapunkt zu den bis dahin üblichen Unterschichten-Castings setzte. Beides mag Emotionen ausgelöst haben und zu einem gewissen Kaufanreiz geführt haben. Und dann hatte Lena natürlich auch das bessere Produkt/"Gesamtpaket" :zahn: Aber das habt Ihr ja schon herausgearbeitet.
Natürlich war USFO alles andere als eine typische Castingshow. Gerade die einmalige Verbindung zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsendern, die es ja im Unterhaltungssektor in der Tat noch nie gegeben hatte, und der ESC als großes Ziel sorgten einerseits für Aufmerksamkeit des TV-Publikums, andererseits aber auch für mediale Rückendeckung der Show und ihrer Kandidaten auf ungewöhnlich breiter Front. Nur: Ich hatte ja geschrieben, dass ich als 'Außenstehender', der sich weder als Lena- noch als Raabfan definieren würde, den Erfolg Lenas trotz aller Sympathie, die ich damals für sie empfand, lange Zeit großenteils gerade den genannten äußeren Faktoren ARD, ProSieben, Raab, Brainpool, Universal, ESC zugesprochen habe. Im Umkehrschluss bedeutete das, dass ich zB durchaus auch Jennifer Braun einen USFO-Sieg und eine außergewöhnlich gute Platzierung in Oslo zugetraut hätte. Dann kam Roman und zeigte mir, dass sich der Erfolg eben doch nicht so 'automatisch' einstellt, wie das vielleicht sogar die Beteiligten um Raab und Thomas D selbst erwartet hätten. Natürlich könnte man seitenweise diskutieren, ob der Misserfolg von USFB schon während der Show (absolut desaströse Einschaltquoten) eher der Farblosigkeit der Kandidaten geschuldet war oder eher den äußeren Änderungen, für die die Kandidaten nichts konnten (Blitztabelle, neue Moderatoren). Genauso frage ich mich schon seit 2010 immer wieder, was aus USFO und dem ESC in Oslo geworden wäre, wenn Lena a) nie zum USFO-Casting erschienen wäre oder b) die Show zumindest nicht gewonnen hätte. Und auch sonst stellte und stellt sich mir öfter die Frage, was nun letzten Endes Lenas wahres Erfolgsgeheimnis war und ob es ein solches überhaupt gibt. Auch bei einer Lena, das ist mein Standpunkt damals wie heute, war und ist vieles auch immer (siehe Walters Begriff vom "Hochrisikogeschäft") von Zufall und Glück abhängig gewesen und war keineswegs jeder Erfolg so zwingend, wie es vielleicht manche Foristen hier annehmen. Lenas 246 Punkte beim ESC waren ja nun auch nicht soooo eine Bank wie in anderen Jahren. Schon nach dem ESC 2012 begann ich mich zu fragen, wie der ESC in Oslo wohl ausgegangen wäre, wenn Lena in der direkten Konkurrenz zu einer Loreen, einem Alexander Rybak oder auch zu den russischen Omis (selbst diese hatten noch mehr Punkte als sie in Oslo) hätte antreten müssen. Und wenn sie in Oslo nicht gewonnen hätte, sondern zB "nur" einen zweiten oder dritten Platz gemacht hätte, so hätte ihr das zwar immer noch eine ungeheure Welle der Sympathie in der Heimat, aber mit Sicherheit keinen zweiten Start beim ESC und keine eigene mehrteilige Fernsehshow zur Präsentation ihres zweiten Albums eingebracht ;)

Natürlich sind das alles Fragen, die nie irgendwer auf der Welt abschließend wird beantworten können (genauso wie zB auch die Frage, ob Roman und USFB erfolgreicher gewesen wären, wenn es vorher nicht Lena und USFO gegeben hätte) .... aber ich spekuliere halt gerne :)



Hm, Einspruch euer Ehren: Rory Gallagher z.B. legte nie Wert auf Mode und Image, er wollte einfach nur gute Musik abliefern.

Einspruch abgelehnt!
Holzfällerhemd, Jeans und zerschlissene Strat sind sehr wohl ein Image. Imagelosigkeit geht gar nicht. So wie man nicht unpolitisch sein kann, indem man nicht zur Wahl geht.
Wieso nur muss ich auch hierbei immer wieder an Roman denken .....? ;)

j_easy
01.09.2012, 00:47
Wow, alles sehr interessant.

Also gibt es keine eindeutige Deutungshoheit, so wie es nicht DIE Popmusik gibt. Alles beeinflusst sich gegenseitig oder ist zu aufgefächert und stilistisch vielfältig um als Einheit gesehen zu werden.

Pessimisten denken, dass die Meinung und der Musikgeschmack durch Marketing und Mediendauerberieselung in die Köpfe des Volkes geprügelt wird und diese zu einem bestimmten Konsumverhalten zwingt ...

Optimisten gehen vom mündigen Bürger aus, der aus der vermeintlichen Vielfalt schöpft und selbst weiß, was er möchte.

Ich denke, die Wahrheit liegt mal wieder irgendwo dazwischen und hängt vom Persönlichkeitstyp, seiner Umwelt, Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen, auch dem Alter ab.

Das Dumme ist ja wirklich, wenn man sich z.B. so von den meisten Radiosendern berieseln lässt, entdeckt man kaum wirklich neues oder auch mal schräges, ungewöhnliches ... Manch einer ist auch einfach zu faul zum Entdecken und kaufen nur das was gerade angesagt ist ... das kann im Fall von Lena natürlich auch was Gutes sein ;)

Endet hier erst einmal.

Peter M. aus V.
01.09.2012, 01:34
@esiststeffen, @bates:

Natürlich bin ich - wie Ihr - ebenfalls begeisterter "Analyst", mal mit mehr, mal mit weniger Hintergrundwissen, und dankbar für die Anregung durch andere Interpreten, 'Deuter, Kritiker in dem Sinn, wie @bates es formuliert hat. Ich gehöre zu den Glücklichen, denen ein emotional akzeptiertes ein emotional Kunstwerk durch genaues Hinsehen, Hinhören, Nachforschen noch mehr ans Herz wächst, noch wertvoller wird. Und ich rede gerne darüber, ob jemand zuhören will oder nicht. (Habe vorgestern das erste "Gemälde" meines Lebens von einem Kunststudenten gekauft, ein Freund meines Sohnes, dabei ununterbrochen erklärt, was ich so toll an dem Bild finde und gleichzeitig immer neue Facetten entdeckt.) Mit der saloppen Formulierung "Die sollen ihre Deutungen behalten" habe ich gemeint, dass die meisten Liebhaber von Popmusik zu der Fraktion Konsumenten gehört, denen Analyse und Kritik den Genuss vergällt. Die anderen - also wir - sind eine "qualifizierte" Minderheit. :)

Ach ja: Harry Potter. Ich liebe es. Und gelesen von Rufus Beck an vielen Stellen eine Offenbarung. Ich habe ihn durch meinen damals zehnjährigen Sohn kennengelernt - und mich von Anfang an zu ihm bekannt. Bei Lena hat das länger gebraucht, muss ich gestehen.

Tiny Tim
01.09.2012, 21:29
Was ist Pop? Diedrich Diederichsen meint es zu wissen. (http://www.zeit.de/2008/08/OdE17-Pop-Interview)

http://forum.rollingstone.de/showthread.php?t=8893&page=48



Diederichsen schreibt, Pop sei nicht Massenkultur ("weder Massen- noch Hochkultur"). Das kann ich nicht nachvollziehen. Was ist denn dann eigentlich Massenkultur, wenn nicht Pop? Folklore? Staatlich verordnete Kultur in totalitären Systemen?
Ich denke, hier soll die Masse definitorisch beiseite geschafft werden, weil sie der gewünschten elitär-bildungsbürgerlichen Deutung von Pop im Wege steht. Dem Pop wird das Volk (populus) ausgetrieben.
Tatsächlich steht der Pop in engem Zusammenhang mit der Massengesellschaft, mit Demokratie (Volksherrschaft) und Kapitalismus (Stichwort "Kulturindustrie"). Und mit Techniken, die eine rasche Verbreitung der kulturellen Erzeugnisse auch in die weniger gebildeten Bevölkerungsschichten hinein ermöglichen (Tonaufzeichnung, Radio, Film, Internet). Ansätze dazu gab es bereits deutlich vor den Fünfziger-Jahren. Was in den Fünfzigern als wirkliche Neuerung hinzu kam, war das Aufkommen einer dezidierten Jugendkultur, die bald bis zur Ununterscheidbarkeit mit der Popkultur verschmolz.
Man könnte sagen, Popkultur ist jene Kultur, die technisch avancierte, marktwirtschaftlich orientierte Demokratien hervorbringen. Ob links oder rechts, sie ist stets systemimmanent und -stabilisierend.

http://forum.rollingstone.de/showthread.php?p=1432416#post1432416

Tiny Tim
01.09.2012, 23:03
Das Rolling-Stone-Forum ist wirklich eine tolle Fundgrube. Hier z.B. haben wir eine sehr interessante Diskussion über Pop als gefühlsmäßige Negativfolie für die "Brokdorf-Generation": http://forum.rollingstone.de/showthread.php?p=1894365#post1894365

P.S.: Das ist wirklich eine außerordentlich interessante Diskussion! Nehmt euch Zeit dafür; sie geht über 10 Seiten, bis Seite 59!

Randwer
02.09.2012, 12:30
Ich habe mir tatsächlich mal diese 10 Forumsseiten im Rolling-Stones-Forum reingezogen. Im Grunde hat sich dadurch mein Vorurteil bestätigt, dass im Grunde jeder seine eigenen Vorstellungen von Pop hat. Insbesondere unterscheidet sich die Einschätzung der künstlerischen Werke von Mensch zu Mensch.
Ich persönlich verwende den Begriff "Pop" deshalb äußerst ungern. Er ist einfach zu missverständlich und als Genrebezeichnung äußerst zweifelhaft.
Der Begriff "Rock" ist da schon besser zu greifen und eher in Form eines musikalischen Genres abzugrenzen.

Tiny Tim
02.09.2012, 20:02
Interessant finde ich an diesem Text, dass er noch vor USFB geschrieben wurde. Lena und Roman starteten medial gesehen unter nahezu identischen Vorzeichen (Roman vielleicht sogar noch mit gewissen Vorteilen, weil er sich in einer Show präsentieren konnte, die sich bereits zuvor als überaus erfolgreich erwiesen hatte und daher vermutlich auch mehr Leute auf sie neugierig waren - zumindest bin ich ein Beispiel dafür, da ich USFO nie gesehen, USFB aber von der ersten bis zur letzten Ausgabe tapfer verfolgt habe). Beide Künstler und beide Shows hatten die ARD, ProSieben, Stefan Raab, Brainpool und last but not least den ESC als große Bühne im Rücken. Dennoch hat Lena praktisch von ihrer USFO-Teilnahme an einen nationalen und später auch internationalen Medienhype ausgelöst, der bei Roman ausgeblieben ist. Roman hatte keine Single und kein Album auf Platz 1 der Charts, und obwohl er sich in Baku meiner Meinung nach achtbar geschlagen hat, hatte er keine Chancen auf den Sieg. Heute, drei Monate nach dem ESC (es erscheint mir viel länger) ist er schon wieder halb in der Versenkung verschwunden. Die Einschaltquoten von USFB waren unter aller Kanone und blieben teilweise sogar hinter Sendern wie RTL2 oder Kabel1 zurück; und (ich hatte es schon damals irgendwo im Forum geschrieben) zeitweilig erweckten Jury und Moderatoren bei USFB zumindest auf mich den Eindruck eines 'Das hätten wir uns anders vorgestellt'. Vielleicht war man tatsächlich der Meinung, dass es ein Selbstläufer sei, mit der Show USFB und unserem Star für Baku (ganz egal wer es sein würde) wieder einen vergleichbaren Hype zu landen wie 2010 mit USFO und Lena. Die Zuschauer, Televotingteilnehmer und CD-Käufer würden schon von alleine kommen; die Hauptsache wäre es, den Gewinner in den richtigen TV-Shows zu platzieren. Und ich gestehe auch freimütig: Bis USFB 2012 habe ich Lenas Erfolg auch zu einem guten Teil auf diese äußeren Umstände zurückgeführt. USFO hätte für mich genausogut Jennifer gewinnen können (das Finale war bekanntermaßen die einzige USFO-Ausgabe, die ich gesehen habe), und sie hätte auch genausogut eine sehr gute Platzierung in Oslo einfahren können (Lenas Sieg in Oslo war für mich noch nie eine zwingende Selbstverständlichkeit). Erst als ich in diesem Jahr den direkten Vergleich in Form von USFB und Roman gesehen habe, und wie diesmal alles so emotionslos dahinplätscherte, wurde mir klar, dass an Lena vielleicht doch etwas ganz Besonderes dran sein könnte, was anderen von den Medien präsentierten Superstars tatsächlich abgeht :)

Was ich damit sagen wollte: Am direkten Vergleich zwischen Lena/USFO und Roman/USFB kann man den Unterschied zwischen einem von den Medien auf den Sockel gehobenen Star, der die in ihn gesetzten Erwartungen und Hoffnungen tatsächlich erfüllt (und sogar übererfüllt), und einem, dem dies trotz unbestreitbar vorhandener sangestechnischer Fähigkeiten nur sehr eingeschränkt gelingt, meiner Meinung nach sehr gut erkennen ..... an diesem Vergleich könnte man weiter ansetzen, gerne auch aus wissenschaftlicher Sicht ;)

Ich möchte diesen Beitrag noch einmal ausdrücklich unterstützen, weil man auch nicht vergessen darf, unter welchen Voraussetzungen Unser Star für Oslo startete. Damals hatte Stefan Raab ja keineswegs schon das Standing, das er heute hat; vielen galt er immer noch als Schmuddelkind des Fernsehens, kaum besser als Dieter Bohlen, und letzterer hatte wesentlich mehr Zuschauer. Heute ist Raab die unumstrittene Nummer Eins unter den deutschen TV-Unterhaltern, aber damals war er realistisch betrachtet die Nummer Drei.
Dazu kommt, dass das Konzept für Unser Star für Oslo nicht gerade spektakulär und der ausgelobte Preis nach den Blamagen der Vorjahre eher zweifelhaft war. Und die Kooperation mit der ARD war zwar was Neues, aber für das breite Fernsehpublikum nichts Aufsehenerregendes; eigentlich reine Senderpolitik, die höchstens bei Journalisten für gesteigerte Aufmerksamkeit sorgte. Dementsprechend waren die Einschaltquoten sehr mittelmäßig und im Vergleich zu den offiziellen ESC-Vorentscheiden, die Jahre zuvor veranstaltet wurden, sogar eher schlecht. Rückblickend muss man sagen, dass im Vorfeld kaum jemand wirklich hohe Erwartungen an USFO stellte.
Das kann man übrigens auch daran ablesen, dass die Reaktionen des Publikums auf die KandidatInnen ein wenig schizophren waren. Einerseits war Lena von ihrem ersten Erscheinen an die klare Favoritin (im Lenaisten-Blog habe ich versucht, die Explosivität ihres Urknall-Auftritts zu verdeutlichen (http://www.lenaisten.de/2011/02/20/erfolg-der-aus-versehen-kam/)), andererseits wurde sowohl in den darauffolgenden Shows als auch in der öffentlichen Rezeption dieses Wissen scheinbar wieder weitgehend verdrängt, indem viel Aufmerksamkeit der Starkstromfrisur und dem "flippigen" Äußeren von Christian Durstewitz oder den mehr oder weniger bemerkenswerten Songwriterqualitäten "Durstis" oder auch Sharyhan Osmans zuteil wurde. Das war zwar einerseits sozusagen "gerecht", da USFO natürlich streng genommen keine Lena-Show war, andererseits aber angesichts ihrer überragenden Show- und Starqualitäten, die schon im Vergleich mit etablierten Popstars, ganz besonders extrem aber im Vergleich mit den übrigen USFO-KandidatInnen auffielen, gelinde gesagt etwas schräg.
Am Ende kam es freilich so, wie es kommen musste, und der Rest ist Geschichte. Im Nachhinein erschien USFO als glanzvoller Höhepunkt der deutschen Unterhaltungsgeschichte und wurde mit Preisen überhäuft, was offenkundig auf Lenas Konto ging. Dass das im Vorhinein überhaupt nicht absehbar war, ging dabei ein wenig unter.

Unser Star für Baku dagegen startete, wie Du richtig bemerkst, als Fortsetzung eines preisgekrönten Klassikers. Natürlich haben es Sequels auch immer schwer, sich aus dem Schatten eines überragenden Vorgängers herauszuarbeiten, aber andererseits bekommen sie von vornherein größte Aufmerksamkeit. Es besteht wohl kein Zweifel, dass USFB im Januar 2012 weitaus mehr Aufmerksamkeit bekam als USFO im Januar 2010; insofern stimme ich Dir darin voll und ganz zu, dass Roman Lob, der ja ebenfalls seit seinem ersten Auftritt als klarer Favorit galt, tendenziell sogar bessere mediale Voraussetzungen hatte als Lena im Februar 2010. Und trotzdem verliefen die Erfolgskurven der beiden vollkommen verschieden: die von Lena steilst nach oben, die von Roman mit mäßiger Steigung. Lenas Karriere kann man mit Fug und Recht als die steilste der Popgeschichte bezeichnen; war sie am 2.2.2010 um 21:00 Uhr nur ein paar Handvoll von Verwandten, FreundInnen und MitschülerInnen in Ost-Hannover bekannt, verliebten sich keine 2800 Stunden später Menschen in ganz Europa in sie, wurde sie zur gefeierten Popheldin, beherrschte sie die Schlagzeilen sämtlicher Print-, Online- und Rundfunkmedien Deutschlands, stand sie auf Platz 1 der Album- und Singlecharts, wurde sie von Teenage Girls (:D) und erwachsenen Männern gleichermaßen angehimmelt. Roman Lob dagegen war auch cool.

Ich weiß, das alles habe ich in anderen Worten schon mehr als einmal geschrieben und stellt im Grunde nur eine erneute Wiederholung von Altbekanntem dar. Aber ich denke, es lohnt sich, das noch einmal zu schreiben und zu lesen, denn die Annahme, dass Popstars durch die Massenmedien mehr oder weniger beliebig (re-)produzierbar seien, ist so populär und weit verbreitet, dass man die Tatsachen, die dagegen sprechen immer wieder auch dagegen halten sollte. Es ist nämlich zudem auch unter der Würde des Pop, wenn man einer solchen Behauptung nicht energisch widerspricht, oder anders formuliert: es steht in einer guten Tradition der Selbstermächtigung von engagierten Poprezipienten, wenn man in diesem Sinne die Dinge geraderückt und die Deutungshoheit über Pop zumindest nicht denen überlässt, denen er nichts bedeutet.

Randwer
02.09.2012, 20:20
Naja, Stefan Raab hatte schon vor USFO einige Meriten in Bezug auf den ESC gesammelt. Ganz so fern lag es also nicht, dass das Erste auf ihn zu kam. Man wollte dass in Oslo ein achtbares Ergebnis rausspringt. Mit einem Sieg wird bei den Sendern allen ernstes niemand geliebäugelt, geschweige denn gerechnet haben.

Tiny Tim
02.09.2012, 20:35
Naja, Stefan Raab hatte schon vor USFO einige Meriten in Bezug auf den ESC gesammelt. Ganz so fern lag es also nicht, dass das Erste auf ihn zu kam.

Das ist schon klar, das habe ich auch gar nicht in Frage gestellt. Aber seine Meriten waren gleichzeitig auch etwas halbseiden und nicht besonders spektakulär. Seine Erfolgsbilanz wies einen fünften, einen siebten und einen achten Platz aus, was recht gut, aber nicht überragend ist, und von den drei Auftritten unter seiner Ägide waren zwei ausgesprochene Klamauk-Acts. Im Grunde wurde er im ESC-Kontext nur deshalb als bemerkenswert betrachtet, weil der ESC immer mehr als reine Trash-Veranstaltung angesehen wurde, was sich in den Auftritten von Guildo Horn und Stefan Raab selbst ja auch deutlich zeigte. Mit Max Mutzke schickte er erstmals einen "normalen" Popact zum ESC, der dann aber auch die relativ schlechteste Plazierung unter Raabs Ägide erzielte. Hauptsächlich profitierte Raab davon, dass Ralph Siegel als kaum noch erträglich angesehen wurde und ansonsten niemand bereitstand, der versprochen hätte, Deutschland wieder Ruhm und Ehre beim ESC einzubringen. So wie Angela Merkel mehr von der Schwäche ihrer politischen Konkurrenten als von eigener Stärke profitiert, so profitierte Stefan Raab von der totalen Inkompetenz des NDR und vom nahezu völlig ruinierten Ansehen Ralph Siegels.

maybear
03.09.2012, 03:58
Es besteht wohl kein Zweifel, dass USFB im Januar 2012 weitaus mehr Aufmerksamkeit bekam als USFO im Januar 2010; insofern stimme ich Dir darin voll und ganz zu, dass Roman Lob, der ja ebenfalls seit seinem ersten Auftritt als klarer Favorit galt, tendenziell sogar bessere mediale Voraussetzungen hatte als Lena im Februar 2010.Hier vermag ich deiner Argumentation nicht zu folgen, beim Finale hatte USFO einen Marktanteil von 14,6 %, USFB dagegen von nur 6,9 %. Und auch bei den jeweiligen Auftaktsendungen war die Aufmerksamkeit der Zuschauer bei USFB keinesfalls größer, sondern der Marktanteil lag mit 8,2 % bereits hier geringfügig unter dem von USFO mit 8,5 %.

Tiny Tim
03.09.2012, 04:10
Hier vermag ich deiner Argumentation nicht zu folgen, beim Finale hatte USFO einen Marktanteil von 14,6 %, USFB dagegen von nur 6,9 %.

Ja, aber das war ja bereits gegen Ende der jeweiligen Sendereihe. Ich meinte aber die Aufmerksamkeit, die USFO bzw. USFB im Vorfeld bekam. Dass USFB dermaßen abschmierte, hat gewiss verschiedene Gründe; einer davon wird allerdings sicherlich gewesen sein, dass eben kein Teilnehmer wirklichen Starappeal besaß.


Und auch bei den jeweiligen Auftaktsendungen war die Aufmerksamkeit der Zuschauer bei USFB keinesfalls größer, sondern der Marktanteil lag mit 8,2 % bereits hier geringfügig unter dem von USFO mit 8,5 %.

Das wird auch damit zusammengehangen haben, dass es noch eine zusätzliche Konkurrenz in Gestalt von The Voice of Germany gab.

maybear
03.09.2012, 04:22
Jedenfalls stimmt es nicht - wie du schreibst - daß USFB "weitaus mehr Aufmerksamkeit bekam" als USFO, vielleicht im Vorfeld in der Presse, aber nicht was die Zuschauerzahlen angeht, d. h. den ersten Auftritt von Roman sahen weniger Menschen als den ersten Auftritt von Lena, und bei den folgenden Auftritten geht die Schere dann immer weiter auseinander, den Finalauftritt mit dem ESC-Song von Roman sahen nur halb soviele Zuschauer wie den von Lena (was sicher nicht nur an Roman lag, sondern auch an diversen anderen Faktoren). Somit hatte Roman nicht - wie du schreibst - "tendenziell sogar bessere mediale Voraussetzungen", ganz im Gegenteil.

Tiny Tim
03.09.2012, 04:29
Jedenfalls stimmt es nicht - wie du schreibst - daß USFB "weitaus mehr Aufmerksamkeit bekam" als USFO, vielleicht im Vorfeld in der Presse, aber nicht was die Zuschauerzahlen angeht, d. h. den ersten Auftritt von Roman sahen weniger Menschen als den ersten Auftritt von Lena, und bei den folgenden Auftritten geht die Schere dann immer weiter auseinander, den Finalauftritt mit dem ESC-Song von Roman sahen nur halb soviele Zuschauer wie den von Lena (was sicher nicht nur an Roman lag, sondern auch an diversen anderen Faktoren). Somit hatte Roman nicht - wie du schreibst - "tendenziell sogar bessere mediale Voraussetzungen", ganz im Gegenteil.

Doch. Wenn ich von medialen Voraussetzungen schreibe, dann ist das logischerweise die mediale Konstellation vor Beginn der Sendereihe. Die tatsächlichen Einschaltquoten sind dann ja bereits u.a. von der Qualität der Sendung selbst beeinflusst, zu der schließlich auch die Darbietungen der Kandidaten gehören; gemessen wird ja die durchschnittliche Zuschauerzahl über die Gesamtzeit der jeweiligen Sendung. Das kann man aber nicht zu den medialen Voraussetzungen zählen, sondern das gehört bereits zur tatsächlichen Verlaufsform.

maybear
03.09.2012, 04:58
Sorry, meiner Meinung nach zählt zunächst nur, wieviele Zuschauer Romans oder Lena ersten Auftritt gesehen haben (beide übrigens erst am Ende der jeweiligen Auftaktsendung), alles andere ist dann nicht nur reine "Voraussetzung", sondern wird natürlich dann schon davon beeinflußt, wie der jeweilige Künstler ankommt (bei den Zuschauern und bei den Medien). Die Aufmerksamkeit für USFB war offenbar nicht größer als die für USFO, wohl auch durch den Überdruss an allzu vielen Castingsendungen bedingt, und deshalb hatte es Roman meiner Meinung nach durchaus nicht leichter als Lena, zumal er immer an ihr gemessen wurde.

Das ändert freilich nichts daran, daß auch bei umgekehrten Vorzeichen (Roman bei USFO und Lena bei USFB) ich von einem erheblich größeren Erfolg für Lena ausgehe.

Tiny Tim
04.09.2012, 00:08
Ich feiere das Rolling-Stone-Forum!


Auch Dido oder die Black Kids oder meinetwegen die Spice Girls machen relevanten Pop. In vielerlei Hinsicht relevant, in anderer Hinsicht sogar guten Pop. Wer das nicht anerkennt, ist betrunken.


Relevant vielleicht, jedoch MUSS man das nicht widerspruchslos anerkennen - aber zumindest sollte man lernen, es zu tolerieren. Und als Teil des Ganzen zu sehen. Ich muß weiß Gott nicht jeden Trash mutwillig hofieren, weil ich urplötzlich meine, die ganze Materie mit dem Löffel gefressen zu haben (und vor allem nicht aus Gründen von reinem aufgesetztem Oppositionsgehabe: "...weil alle Welt das Scheisse findet, finde ich das jetzt erst recht ganz klasse, ätsch!" Ein Beispiel: Solch eine armselige Flitzpiepe, die sich in dieser Weise total clever vorkam, rauschte vor längerer Zeit während einer unserer "Disco"-Veranstaltungen zum DJ-Pult und wünschte sich aus eben einer solchen Posiererei heraus Modern Talking, Münchner Freiheit und Frl. Menke, während gerade eine Runde, bestehend aus Fehlfarben, Palais Schaumburg, Tocotronic, Blumfeld, etc. zu Ende ging... - solches Verhalten ist unnötig und dumm zugleich!).

Natürlich steckt sich jeder seine Grenzen selber ab (jaja, und schon kommen wir der "Geschmacksache" doch wieder gefährlich nahe - aber Vorsicht...) - was jedoch nicht unbedingt bedeutet, daß er willkürlich abgrenzen muß. Selbst Deine Wortwahl ("guten Pop") impliziert, daß es auch "schlechten Pop" geben muß... (wer zieht wo die Grenze?)
Und: muß ich folglich - strenggenommen Deiner Aussage folgend - nicht auch diesen "schlechten Pop" anerkennen, um nicht (Deiner Meinung nach) als Suffkopp geoutet dazustehen...?

http://forum.rollingstone.de/showthread.php?t=8893&page=88